Für Flüchtlingslager wie dieses in Jordanien stehen nach wie vor nur Bruchteile der zugesagten internationalen Hilfsgelder zur Verfügung. Dadurch haben viele syrische Kinder keinen Schulzugang.

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Die Situation in Libyen ist dramatisch, sagt Awad.

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Die Massenflucht aus Syrien sei fürs Erste vorbei, in einzelne kleinräumige Gebiete in dem seit sieben Jahren im Kriegszustand befindlichen Land könnten die Menschen sogar wieder zurück, sagt Amin Awad, Direktor des UNHCR-Büros für den Nahen Osten und Nordafrika, Im STANDARD-Interview. Doch die Allianzen, die an diesen Orten zum Ende der Kämpfe geführt haben, seien höchst wackelig, alles hänge davon ab, wie es bei den Syrien-Verhandlungen weitergehe.

Die internationale Gemeinschaft sei nach wie einen Großteil der zugesagten Hilfsgelder für die Nachbarstaaten Syriens schuldig, in denen 4,9 Millionen Kriegsflüchtlinge leben: ein fortgesetztes "kollektives Versagen", das im Endeffekt das "Businessmodell der Schlepper" stärke.

Von Flüchtlingslagern in Libyen rät Awad dringend ab – und hofft international auf politische Mehrheiten ohne Rechtsdrall, um der "Politisierung" der Asylfrage ein Ende zu bereiten.

STANDARD: Der Krieg in Syrien hat so viele Menschen in die Flucht geschlagen wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Wie ist die Lage in der Region aktuell?

Awad: Nach wie vor leben 4,9 Millionen Syrer als registrierte Flüchtlinge im Libanon, in Jordanien, der Türkei, dem Irak und Ägypten. In Syrien wird weiterhin gekämpft, es finden Militäraktionen gegen die Terrormiliz IS und andere Gruppen statt – auch wenn die Syriengespräche in Astana (seit Jänner 2017 verhandeln Russland, die Türkei und der Iran in der kasachischen Hauptstadt über Syrien, Anm.) in manchen Regionen stabilisierende Effekte hatten. Noch immer müssen Menschen innerhalb Syriens fliehen, aber der Exodus aus Syrien über die Grenzen ist vorerst beendet.

STANDARD: Hat sich dadurch die Lage in den Nachbarstaaten entspannt?

Awad: Natürlich, aber ohne Hilfe können es diese Länder nach wie vor nicht schaffen, so viele Flüchtlinge zu versorgen. Die Herausforderungen sind immens.

STANDARD: Zum Beispiel?

Awad: Etwa bei der Bildung. In den vergangenen fünf bis sechs Jahren konnten im Durchschnitt nur 50 Prozent der syrischen Kinder eine Schule besuchen. Hier haben wir eine ganze Generation verloren. Am wichtigsten aber ist eine Lösung in Syrien selbst. Der Krieg dort geht in sein siebentes Jahr.

STANDARD: Sie sprachen von einem stabilisierenden Effekt der Astana-Gespräche. Eröffnen sie eine Rückkehroption für Flüchtlinge?

Awad: In manchen kleinräumigen Gebieten schon, nur ist die Lage auch dort höchst unsicher. Allianzen werden geschmiedet, Allianzen wieder gebrochen, manchmal über Nacht. Alles hängt daran, ob es im Post-Astana-Prozess Fortschritte geben wird.

STANDARD: Zuletzt haben Russland, China und Bolivien im UN-Sicherheitsrat Sanktionen gegen das Assad-Regime wegen Giftgasverwendung verhindert. Welchen Einfluss auf die Flüchtlinge hat diese Uneinigkeit?

Awad: In der Region direkt gar keine. Viele Menschen aus dem syrischen Hinterland schildern, dass sie vor der Flucht mit der Regierung und ihrem Apparat nichts zu tun hatten. Nach Ausbruch der Kämpfe seien sie um ihr Leben gelaufen. Diese Leute werden zurückgehen, wenn sie in ihrer Heimat wieder Existenz und Arbeit finden. Das allein ist ihre Bedingung.

STANDARD: 2016 sprachen Sie von einem "kollektiven Versagen" der internationalen Gemeinschaft. Zu diesem Zeitpunkt waren von den zugesagten umgerechnet 10,4 Milliarden Euro Hilfsgeldern für Syrien bis 2020 erst 2,2 Milliarden Euro überwiesen worden. Hat sich das inzwischen verbessert?

Awad: Nein, man kann also von einem fortgesetzten kollektiven Versagen der internationalen Gemeinschaft sprechen. Dass weiterhin Geld für Maßnahmen vor Ort fehlt, spielt den Schleppern in die Hand. Das ist in der syrischen Region nicht anders als in Nordafrika, von wo aus jährlich 250.000 Menschen versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen – 80 Prozent von ihnen Migranten, keine Flüchtlinge. Und wer in der breiteren Öffentlichkeit weiß schon etwas von den jährlich bis zu 110.000 Menschen aus Somalia, Eritrea, Äthiopien, die über die Meerenge vor Dschibouti in den Jemen gelangen? Im Jemen wird gekämpft, es gibt Luftangriffe, Sanktionen, 80 Prozent der Bevölkerung brauchen Hilfe. Aber auch dort ist das Schlepper-Business ein Erfolgsmodell. Um zu verhindern, dass sich Menschen auf den Weg machen, muss man die Ursachen des Weggehens beseitigen: Hunger, Armut, Korruption oder Krieg.

STANDARD: Was wissen Sie über die Lage in Libyen. Von dort gibt es Berichte über Grausamkeiten gegen Flüchtlinge und Migranten.

Awad: Die Lage ist dramatisch. Die libyschen Grenzen sind offen, das Land ist ein Zufluchtsort für bewaffnete Gruppen, Drogen-, Waffen- und Menschenschmuggler. Flüchtlinge und Migranten werden eingesperrt, versklavt, vergewaltigt, getötet.

STANDARD: Kann man in Libyen Auffanglager errichten?

Awad: Das ist völlig unrealistisch. Wer mit Libyen bei der Migration kooperieren möchte, muss zuerst eine politische Lösung für das Land finden.

STANDARD: Asylpolitisch waren die vergangenen Jahre unerfreulich. Fast überall wird auf Abschottung gesetzt. Wo liegt das Problem?

Awad: Regierungen und Parteien politisieren die Flüchtlingsfrage für ihre Zwecke. Würden sie verantwortungsvoll vorgehen, wären bessere Lösungen möglich. Die Politisierung hat die öffentliche Meinung gegen Flüchtlinge und Migranten aufgebracht. Man kann nur hoffen, dass es politisch bald wieder in eine andere als nur in eine rechte Richtung geht. (Irene Brickner, 7.3.2017)