Umgekehrter Narzissmus, nichtresignative Melancholie und Ironie: Franz Schuh im Jahr 2015.

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Franz Schuh, "Fortuna. Aus dem Magazin des Glücks". € 22,70 / 250 Seiten. Zsolnay, Wien 2017

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Man hat ihn als legitimen Erben der Wiener Kaffeehausliteratur bezeichnet, als behutsamen Kraftmeier und Weltschmerzensmann in bester Tradition. Anderen wiederum gilt Franz Schuh als "glücklicher Melancholiker", der viel Zeit hat, während andere in ihm eine "freundliche Denkmaschine" zu erkennen glauben oder einen Kreuz- und Querdenker sowie Allroundgelehrten, der als geschmeidiger Seiltänzer über dem Abgrund zwischen Essay und Literatur turnt.

Wahrscheinlich gehen Franz Schuh, der am 15. März seinen siebzigsten Geburtstag feiert, derlei Zuschreibungen am Allerwertesten vorbei. Zumal er, so schreibt er jedenfalls in Memoiren. Ein Interview gegen mich selbst (2008), an einer Art umgekehrtem Narzissmus leidet, "also daran, dass ich jeden Schimpf wie nichts aushalte, während ich die Thematisierungen meiner Person, die bei lobenden Erwähnungen passieren, unerträglich finde. Das ist sicher auch etwas Wienerisches: In Wien wirst du hart darauf konditioniert, dass du ein Nichts bist (...). Aber es hat noch andere Hintergründe, über die ich, ohne Genaueres zu wissen, die fixe Psychologenmaxime ausbreite: Es kann nur an der Kindheit liegen."

Franz Schuh zu Gast bei "Willkommen Österreich".
Gagolero

Letztere verbrachte Franz Schuh in den Gemeindebauten Reuenthalgasse und Alliogasse im 15. Wiener Gemeindebezirk: "Wo heute die Stadthalle steht, waren früher Gärten, ich sah sie von meinem Fenster aus, im vierten Stock der Reuenthalgasse, ich überblickte sie. Damit ich nicht runterfiel, war das Fenster mit Gitterstäben versehen, ich hielt mich an ihnen fest, ich war klein, aber sicher", schreibt Schuh in Liebe Macht und Heiterkeit (1985).

Ein freieres Leben

25 Jahre später postuliert der Autor in Der Krückenkaktus (2011): "Ich bin ein Kind der Wiener Vorstadt, und sollte Heimat dort sein, wo noch nie einer gewesen ist, so träfe es auf mich nicht zu. Ich gehöre immer noch dorthin, und alles Bürgerliche ist für mich ein Exotismus." Das mag einer der Gründe sein, warum Schuh, der sich in seinen Texten mit Hoch- ebenso wie mit den Oberflächenphänomenen der Trivialkultur und zuweilen mit Trash befasst, die "vornehmeren Töne im Kulturbetrieb" suspekt geblieben sind. Und irgendwie scheint umgekehrt auch er, trotz all der Preise, die sie ihm im Verlauf der Jahre verliehen haben, dem Kulturbetrieb ein bisschen unheimlich zu sein. Denn weder literarisch noch als Mensch will dieser Autor, Philosoph und Essayist in eine der Schubladen passen, in die Marketing und Kritik Künstler so gern versenken.

In der Schule und vor allem im Gymnasium, das er als einer der wenigen aus seinem Umfeld besuchte, wandte sich Schuh jener Gegenwelt der Kunst und Literatur zu, die ein freieres Leben versprach. Er ist dieser sekundären Welt treu geblieben. Gelesene Bücher, selbstgeschriebene sowieso, seien Gehhilfen, heißt es im Krückenkaktus.

Oft leuchtet in Schuhs Texten im "Blitzlichtgewitter des Gedächtnisses" jene frühe Zeit, die Herkunft und Erinnerungen an die Eltern auf. Besonders an den Vater, einen Familienpatriarchen der alten Schule, dazu Polizist und bis zum Ungarnaufstand 1956 eingefleischter Kommunist, der früh schon sein einziges Kind mit zum sonntäglichen Frühschoppen ins Gasthaus Maderl mitnahm, wo er seinem Hobby, dem Ringen, nachging. Und zwar mit den anwesenden Gästen.

Ein-Mann-Prozession

An einer der schönsten Stellen seines neuen Bandes Fortuna. Aus dem Magazin des Glücks macht sich Schuh zu Heiligabend zu Fuß auf den Weg durch die Mariahilfer Straße "in die Vorstadt, um bei den Eltern zu sein. Es war eine Ein-Mann-Prozession zu den eigenen Ursprüngen. Unterwegs befiel mich eine Einsamkeit, mit der ich glücklich war, weil sie am Ende einer feierlichen Stimmung doch sehr nahe kam."

Stimmung, oder Gestimmtheit, sind wichtige Worte in Schuhs Werk. Fast nie wird in seinen Prosatexten, Essays, Glossen, Gedichten, Kritiken und den zahlreichen Interviews, die er druckreif formulierend gibt, ausschließlich der Intellekt angesprochen, das Herz, die Gefühle sind immer mit dabei.

So wird in Schuhs Büchern die gebrechliche Einrichtung der Welt nie nur denkerisch vermessen, sondern immer auch körperlich erfahren – oder erlitten. Das Gehen zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk dieses Autors. Gegangen wird etwa in Spitäler, auf Kur, ins Theater, ins Beisl und manchmal zum Würstelstand, wo sich das erzählende Ich bei einer Burenwurst den Abend vor dem Fußballspiel England – Deutschland zu verkürzen hofft. Die kreisenden Suchbewegungen, die den Schuh'schen Texten innewohnen, bilden sich in einem äußeren und inneren Herumgetriebensein des Schreibenden ab. Selbst wenn er in seiner "Wohnhöhle" sitzt, ist Schuh in Bewegung.

Wer im Außen und Innen viel herumkommt, lässt viel hinter sich. Auch Jobs. Nach einem Studium der Geschichte, Philosophie und Germanistik in Wien arbeitete Schuh zunächst als Generalsekretär der Grazer Autorenversammlung, als Redakteur und Mitherausgeber der Zeitschrift Wespennest, Lehrbeauftragter an der Angewandten und Verlagslektor bei Deuticke.

Verzicht auf Sicherheit

In Fortuna. Aus dem Magazin des Glücks schildert Schuh im Text "Frisches Grün" diesbezüglich ein Schlüsselerlebnis: "Ich hatte versucht, einen Beruf auszuüben, und 'mein' Büro lag in Floridsdorf. Eines Tages versuchte ich, keinen Beruf mehr in Floridsdorf auszuüben. Ich kündigte, und an einem 15. März war es klar, nie würde ich wieder einen Beruf ausüben dürfen oder müssen. Ich saß, beglückt von meiner Entschlusskraft, im Stadtpark, hatte den Ringstraßenverkehr in den Ohren ..." Der 15. März ist sein Geburtstag, Schuh schreibt weiter über diese "lebensrettende und lebensgefährliche" Entscheidung: "Ich war obszön glücklich, ich war den wesentlichen Schritt meiner Gilde gegangen, hatte auf Sicherheit verzichtet zugunsten einer Freiheit, von der man nichts sicher weiß, abgesehen davon, dass ihretwegen vielleicht alles schiefgehen würde."

Schief gegangen ist es dann nicht. Ab den frühen 1980er-Jahren entwickelte Schuh in seinen essayistischen Büchern, einem Roman und in zahlreichen Kolumnen, Kritiken (u. a. für Die Zeit) und Radiobeiträgen einen Stil, eine Haltung, die ihn schließlich über die Grenzen Österreichs hinaus bekannt machte. Obwohl seine Texte selten den Umfang von dreißig, vierzig Seiten überschreiten, oft sogar wesentlich kürzer sind, könnte man nicht sagen, dieser Autor sei ein Spezialist für die kleine Form, für die konzentrierte aber schon.

Und ob er sich nun mit österreichischer Politik, den Freund-, Feind- und Seilschaften des Kulturbetriebs, Political Correctness oder mit für ihn nicht minder wichtigen Themen wie Liebe, Enttäuschung oder Glück auseinandersetzt, stets haben die Texte dieses Autors etwas Leichtes, Flirrendes und Flüchtiges. Etwas, das beim Lesen oder Hören kurz aufleuchtet und gleich wieder verglimmt, aber als (Lese-)Erfahrung im Gedächtnis bleibt.

Abschweifung ist Programm

Es geht Schuh in seinen Texten – und auch den oft im Wiener Dialekt gehaltenen Gedichten – nicht unbedingt darum, auf den vielbeschworenen Punkt zu kommen, sondern ihn assoziativ von verschiedenen Seiten zu beleuchten, wobei die Abschweifung zum Programm erhoben wird.

Flüchtigkeit ist auch eine Spezialität der launischen Diva Glück, auf deren Fersen sich der Autor nun in Fortuna. Aus dem Magazin des Glücks heftet. Sie ist neben der Liebe eine von zwei Damen, denen Schuh in einigen Büchern nachjagt. Etwa in dem empörenderweise nicht wieder aufgelegten und schon lange vergriffenen Band Schreibkräfte. Über Literatur, Glück und Unglück (2000).

"Es zeigt sich, behaupte ich", heißt es nun in Fortuna, "wie im Wort 'Glück' vieles von dem ineinanderfließt, was man von der menschlichen Existenz wissen kann und vielleicht sogar wissen sollte. Von der Ablehnung des Wortes 'Glück' bis zu seiner spekulativen Ausbeutung und zur endgültigen Banalisierung reicht die Bandbreite, reicht das Bedeutungsgelände, das ich auf einigen Verzweigungen abschreiten werde." Insgesamt sind es 45 Abzweigungen und ebenso viele Texte geworden, die das Buch auf seinen 250 Seiten umfasst.

Schuh schlägt in ihnen den Bogen vom Schmerzspezialisten Schopenhauer, der rät, sich zu ent-täuschen, über den in Glücksdingen pragmatischen Materialisten Brecht und von Thomas Manns Felix Krull, der sich in einer Scheinwelt eingerichtet hat, bis zu Montaigne, Beckett, Kafka, Machiavelli und Horváth, dem das Buch seinen Untertitel verdankt. Allerdings spielen auch Udo Jürgens und Oliver Hardy bei Schuhs Glückssuche eine Rolle.

Seelisches Idealgewicht

Im längsten und essayistischsten Text des Bandes, Gut untergebracht, macht sich Schuh anhand des Zusammenlebens im Gemeindebau der Nachkriegszeit Gedanken über das vermeintlich kleine, aber geteilte Glück, das in der Abwesenheit von Unglück und einem Zusammenstehen, und sei es noch so fragil, besteht.

Immer wieder blendet Schuh auf das Soziale, das in Zeiten des Neoliberalismus und der Durchreglementierung sämtlicher Lebensbereiche unter Druck kommt. Da seine Texte aber stets auch Selbstbefragungen sind, geht es an vielen Stellen von Fortuna um die Verlorenheit des Individuums und der menschlichen Suche nach dem seelischen Idealgewicht. Reflektiert wird so auch über diverse Süchte, zum Beispiel die Du-, Fress-, Liebes- und Sehnsucht. Glück kann auch durch Exzess entstehen.

Oder durch Gelassenheit, die Schuh im Krückenkaktus an Wolfgang Koeppen, jenem Autor "der nicht resignativen Melancholie", erkannte. "Koeppen", so Schuh, "war von den Erfahrungen des Relativen durchdrungen, von der alles beherrschenden Zerbrechlichkeit des Glücks, das es sicher nicht gibt, was aber der geringste Grund wäre, es nicht zu suchen." Insgesamt vermeidet Fortuna. Über das Magazin des Glücks, dieses neueste Buch des unverdrossenen, bald siebzigjährigen Glückssuchers und humorvollen Humanisten Franz Schuh, aber auf jeder Seite jenes Übel, das Schopenhauer neben dem Schmerz als größtes Unglück erkannte: die Langeweile. Vor ihr mögen der Autor und seine Leser auch in den nächsten siebzig Jahren verschont bleiben! (Stefan Gmünder, 11.3.2017)