Im Pavillon 15 am Steinhof mussten Kinder mit Behinderung Gewalt und Misshandlungen erfahren.

Foto: Heribert Corn

Wien – "Demütigend, gewalttätig, entmenschlichend." Das sind nur drei Zuschreibungen, mit denen Hemma Mayrhofer die Zustände in der Wiener Kinder- und Jugendpsychiatrie von 1945 bis in die 1980er-Jahre umreißt.

Mayrhofer, wissenschaftliche Geschäftsführerin des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie, hat mit ihrem Team eine Studie über die psychiatrische Unterbringung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in zwei ehemaligen Wiener Einrichtungen verfasst. Die Erkenntnisse der am Montag im Rathaus präsentierten Studie sind verheerend und zeichnen das Bild eines Systems, das von Gewalt, Misshandlungen und Vernachlässigungen geprägt war.

Die Studie war vom Wiener Krankenanstaltenverbund (KAV) in Auftrag gegeben worden, nachdem Berichte von ehemaligen Mitarbeitern des Pavillons 15 "Am Steinhof" über Gewalttätigkeiten aufgetaucht sind. Die Autoren bestätigten in ihrer Studie, die auf hunderte Akten sowie rund 100 Interviews mit Betroffenen, Angehörigen oder Mitarbeitern aufbaut, dass diese Missstände auch vorlagen. Untersucht wurde neben Pavillon 15, einer Einrichtung im Psychiatrischen Krankenhaus Baumgartner Höhe, auch die "Rett-Klinik" auf dem Rosenhügel.

Vor allem im Pavillon 15, der auch "Kinderpavillon" genannt wurde, zeigte sich ein "völlig inadäquates Versorgungsverhältnis", sagte Mayrhofer. Das unterbesetzte Personal sei überfordert gewesen. Es kam zu "massivem Einsatz sedierender Medikamente". Netzbetten, Zwangsjacken und sonstige Freiheitsbeschränkungen wurden in großem Maße eingesetzt. Abschiebestrategien statt Therapie standen im Vordergrund. Die 140 Betten dürften im untersuchten Zeitraum zwischen 1945 und 1984 zumeist voll ausgelastet oder überbelegt gewesen sein. 600 bis 700 Kinder und Jugendliche mit Behinderung waren in diesem Zeitraum untergebracht – der Großteil von ihnen viele Jahre lang.

Erschwerend kommt hinzu, dass laut den Studienautoren auch die politischen Verantwortungsträger von den Missständen gewusst haben. "Das war alles den maßgeblichen Stellen bekannt", sagte Mayrhofer. Selbst von den damals geltenden Standards in der Versorgung von Menschen mit Behinderung sei die Betreuung der Kinder und Jugendlichen am Steinhof aber "weit entfernt" gewesen. Damit widerspricht die Studie einer KAV-Kommission: Diese kam 2014 zu dem Schluss, dass das Verhalten der Mitarbeiter "in den 1960ern bis 1980ern üblichen Betreuungs- und Behandlungsmethoden" entsprach.

Im Pavillon 15, einst Teil der NS-Tötungsanstalt "Am Spiegelgrund" für Kinder mit Behinderung, wurde auch kaum der Bruch mit der NS-Zeit vollzogen. Personal etwa wurde weitgehend weiter beschäftigt. Gehirne von verstorbenen Kindern wurden bis 1977 an den Arzt Heinrich Gross übergeben. Gross soll in der NS-Zeit an der Ermordung von Kindern mit Behinderung für Forschungszwecke beteiligt gewesen sein. Die Studienautoren vermuten, dass Gross die Gehirne verwendete, um seine Forschungen weiterzuführen.

In der 1956 gegründeten Rett-Klinik wurde zwar auf Rehabilitation gesetzt, wie die Autoren anmerkten. Die Einrichtung sei aber "in bedeutendem Aumaß" in unfreiwillige Sterilisationen oder Schwangerschaftsabbrüche involviert gewesen. In der nach außen hin abgeschotteten Einrichtung wurden auch Medikamente eingesetzt, die nicht für den Handel zugelassen waren. Die Chefsekretärin Retts soll zahlreiche Entscheidungen auch in medizinischen Belangen gefällt haben.

Entschädigungen möglich

Die zuständige Gesundheitsstadträtin Sandra Frauenberger (SPÖ) sprach von einem "sehr dunklen Kapitel". Die Studie sei auch dafür gedacht, die Grundlage für allfällige Schadenersatzzahlungen zu legen. "Wenn Ansprüche entstehen, dann sind sie zu gewähren." Für Opfer von Gewalt in städtischen Heimen stellte die Stadt Wien 52,53 Millionen Euro zur Verfügung.

Laut Studien-Mitautor Walter Hammerschick ließen sich auch strafrechtlich relevante Tatbestände erkennen. Diese Delikte seien allerdings bereits verjährt. (David Krutzler, 13.3.2017)