Özlem steht hinter der Theke in einer türkischen Bäckerei im 20. Bezirk. Bei der Frage nach Recep Tayyip Erdoğan verdreht sie die Augen: "Bitte nicht, der muss nicht kommen. Leute, die ihn wählen, was wollen die hier? Dann sollen sie zurück in die Türkei gehen." Sie wird sich den Weg zum Konsulat sparen und am Referendum zur Einführung des Präsidialsystems am 16. April nicht teilnehmen.

Die 30-jährige Turkologiestudentin hilft in der Bäckerei aus und ist schon vor vier Jahren mit einem Studentenvisum nach Österreich gekommen. Angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen in der Türkei ist sie darüber froh, denn sonst hätte sie fliehen müssen, sagt die Kurdin: "Ich war Lehrerin, viele meiner Freunde sind jetzt inhaftiert oder haben ihre Arbeit verloren." Dass sie für oder gegen die Ausweitung der Rechte des Staatsoberhaupts überhaupt in Österreich abstimmen kann, war ihr bis heute gar nicht bekannt.

Özlem wolle einfach ihre Ruhe haben. Entgegen ihren ursprünglichen Plänen will sie auch nicht mehr zurück in die Türkei. Sie fürchtet, ebenfalls eingesperrt zu werden.

Ihre Freundin sitzt im hinteren Bereich der Bäckerei bei einem Schwarztee und spielt am Handy. Sie flucht "şerefsiz Erdoğan". Was das heißt, will sie lieber nicht übersetzen. Die 27-jährige Kurdin kommt aus Kars im Osten der Türkei, und dort würden alle denken wie sie.

"Erdoğan bringt mir nichts"

Türken, die sich zu glühende Erdoğan-Anhängern bekennen, sind an diesem Dienstagvormittag auch am Hannovermarkt kaum anzutreffen. "Ich wohne und arbeite hier, was interessiert mich Erdoğan? Der bringt mir nichts", sagt ein Kebapverkäufer. Im Sommer verbringe er jeweils drei Wochen in der Türkei.

Der Hannovermarkt im 20. Wiener Gemeindebezirk.
Foto: derstandard.at/maria von usslar

Wie die Abstimmung zur Verfassungsreform ausgeht, sei ihm egal. Er will sein Stimmrecht nicht nutzen. So auch der Fleischer nebenan. Als er vor zehn Jahren nach Österreich gekommen war, sei er schwer krank gewesen. "Ich habe sechs Operationen bekommen, und ich musste nichts dafür bezahlen. Ich bin Österreich sehr dankbar. Auch wenn ich Türke bin, interessiert mich die Politik dort nicht."

Hoffnung auf Reformschub

Pakize sitzt an einem Schreibtisch in der Orientalistikbibliothek. Die angehende Turkologin meint, die Diskussion verlaufe in eine falsche Richtung. Denn es werde nicht über die Person Erdoğan abgestimmt, sondern über die Zukunft der Türkei. "Allein bis das Kopftuch in der Schule erlaubt wurde, hat es in der Türkei zehn Jahre gedauert."

Ahmed ist der einzige Türke, der sich an diesem Tag filmen lässt, auch weil er bisher keine Repressionen zu befürchten hatte.
derStandard.at

Kopftuchträgerinnen könnten in der Türkei auch heute noch nicht überall arbeiten. Wird Erdoğan mit mehr Macht ausgestattet, erhofft sich Pakize – selbst Kopftuchträgerin – einen Reformschub in religiösen Angelegenheiten. Über weitere Konsequenzen der Verfassungsreform will sie sich noch informieren.

Pakize ist seit 14 Jahren in Wien und möchte später einmal in der Nähe von Ankara, ihrer Heimat, leben und als Türkischlehrerin ein Kopftuch tragen dürfen. Tatsächlich wurde der Bann im Staatsdienst bereits aufgehoben.

"Damit die Demokratie nicht noch schwächer wird"

Ahmed eilt durch die Gänge der Orientalistikbibliothek, in zwei oder drei Monaten will er seine Doktorarbeit über Karagöz, einer traditionellen Schattenspielkunst, abschließen. Repressionen hätte er in Istanbul bisher nicht befürchten müssen, dafür habe er sich zu wenig politisch geäußert. Am 16. April wird er gegen die Verfassungsreform stimmen: "Damit die Demokratie nicht noch schwächer wird." Bereits jetzt sei Erdoğan mit sehr viel Macht ausgestattet.

Diejenigen, die in Österreich leben und dafür stimmen, sind seiner Einschätzung nach Arbeiter aus Dörfern oder Kleinstädten. Zum vieldiskutierten Auftrittsverbot für türkische Wahlkämpfer in Österreich äußert er sich skeptisch. "Viele interessieren sich normalerweise gar nicht so für die Politik, aber fühlen sich provoziert: Erdoğan gegen den Rest der Welt – da wollen sie sich positionieren und ihre Solidarität zeigen." Nach seinem Abschluss soll es zurückgehen in die Türkei. Vieler seiner Freunde seien inhaftiert. Ob er nicht auch Angst hat, ins Gefängnis zu kommen? "Natürlich. Aber das ist meine Heimat, was kann ich tun?"

"Erdoğan gegen den Rest der Welt"

Dilek ist in Österreich geboren und hätte im April mit "Nein" gestimmt, wenn sie eine türkische Staatsbürgerin wäre. Die 32-jährige Deutschlehrerin wünscht sich eine sachliche Debatte: "Wahlwerbung ist immer Propaganda, ein Auftrittsverbot müsste für alle gelten." Sie gibt außerdem zu bedenken: "Dieser Fokus auf Erdoğan nutzt ihm mehr, als er schadet. Sobald du versuchst, etwas runterzudrücken, kommt der Gegenwind."

Ekrem sitzt auf einer Bank vor dem Hannovermarkt.
Foto: derstandard.at/maria von usslar

Ekrem ist österreichischer Staatsbürger, seine Kinder sind hier geboren. Der 62-Jährige ist als Gastarbeiter nach Österreich gekommen und hat lange schwer als Hilfsschlosser gearbeitet, was seiner Gesundheit zu schaffen macht. Auch deshalb lobt er das österreichische Gesundheitssystem – aber in der Türkei sei das heute auch besser. Früher habe man ohne Geld den eigenen neugeborenen Sohn nicht aus dem Krankenhaus mitnehmen dürfen, wirft Mustafa, sein Sohn, ein und setzt sich zu ihm auf die Parkbank. Der 28-Jährige erklärt sich die Kritik am Präsidenten so: "Erdogan ist gut, weil er sein Land liebt. Wer die Türkei nicht mag, mag auch keinen Patrioten."

Wie auch sein Vater würde er Erdogan wählen. "Am 16. April werden wir sehen, ob er ein guter Mann ist!" Sein Vater wirkt weniger pathetisch. Der Rummel um das Referendum ist ihm zu groß. Seine Großväter hatten schon zu sagen gepflegt: "Dort, wo du Brot isst, sollst du auch das Schwert schwingen." Er wählt österreichische Politiker in Österreich.

Doppelstaatsbürger im Visier

Aufgrund des Referendums in der Türkei rückten auch jene Migranten in den Fokus, die illegal eine türkisch-österreichische Doppelstaatsbürgerschaft besitzen. Offizielle Erhebungen gibt es nicht, es könnten nach Schätzungen aber einige Tausend sein. Im Auftrag von Integrationsstadtrat Jürgen Czernohorszky (SPÖ) wurden in Wien jetzt erste Zahlen für 2017 ausgewertet: Derzeit laufen 32 Verfahren, in denen geklärt wird, ob die österreichische Staatsbürgerschaft durch Annahme einer fremden Staatsangehörigkeit verloren wurde. 25 Fälle davon betreffen eingebürgerte Türken. Zum Vergleich: In Tirol laufen aktuell zehn Verfahren gegen eingebürgerte Türken.

(Katrin Burgstaller, Maria von Usslar, 14.3.2017)