Die Bevölkerung in Deutschland altert seit mehr als einem Jahrhundert, sagt Gerd Bosbach, ohne dass der Sozialstaat oder der Wohlstand des Landes darunter gelitten hätte.

Foto: Bosbach

STANDARD: Ihre Ansicht über die Bevölkerungsentwicklung weicht vom Konsens ab. Was halten Sie von Prognosen, die mehrere Jahrzehnte in die Zukunft reichen?

Bosbach: Solche Prognosen sind immer mit großer Unsicherheit belegt. Es ist Kaffeesatzleserei, wenn Leute glauben, 50 Jahre in die Zukunft sehen zu können.

STANDARD: Von dieser Unsicherheit abgesehen, was stimmt bei deren Interpretation nicht?

Bosbach: Bei den Zahlenspielen der Angstmacher fallen die langen Zeiträume auf. Das hat eine innere Logik: Kleine jährliche Veränderungen werden über 50 Jahre zu großen Zahlen. So kommt man zu der Aussage, dass es 2060 in Deutschland 30 Prozent weniger Erwerbstätige geben wird. Unberücksichtigt bleibt, dass eine sinkende Gesamtbevölkerung weniger Arbeitskräfte braucht oder die schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre. Wenn man das miteinbezieht, verringert sich der Anteil der Erwerbsfähigen jedes Jahr nur um 0,3 Prozent. Das ist einer von 330 Leuten, der am Arbeitsmarkt pro Jahr ersetzt werden muss.

STANDARD: Sollte das nicht allein aufgrund von Produktivitätsgewinnen möglich sein?

Bosbach: Nicht nur, es gibt mehrere Möglichkeiten, das aufzufangen. Wir haben in Deutschland offiziell 2,7 Millionen, inoffiziell 3,5 bis vier Millionen Arbeitslose. Dazu kommt, dass viele Frauen teilzeitbeschäftigt sind. Das sind riesige Reserven, dagegen wirken 0,3 Prozent pro Jahr lächerlich.

STANDARD: Was unterscheidet offizielle von inoffiziellen Zahlen?

Bosbach: Das ist eine reine Definitionsfrage. Kranke zählen nicht als Arbeitslose, wer in Weiterbildung ist, wird auch herausgerechnet. Leute, die von der Bundesagentur für Arbeit an private Arbeitsvermittler übergeben werden, zählen auch nicht mehr als arbeitslos. Es ist ein schlechter Gag, aber so werden Zahlen geschönt – weil die Regierung schöne Arbeitslosenzahlen will.

STANDARD: Zu welchen Schlussfolgerungen kommen Sie?

Bosbach: Dass wir älter werden und mehr Rentner haben, ist nicht neu. In Deutschland hat sich der Anteil von über 65-Jährigen im letzten Jahrhundert verdreifacht und der Anteil der Jugendlichen halbiert. Wie ist diese Entwicklung wirtschaftlich und sozial aufgefangen worden? Blendend, Sozialstaat und der Wohlstand haben sich gut entwickelt. Gleichzeitig konnten wir die Arbeitszeiten verkürzen. Die demografische Entwicklung war im letzten Jahrhundert sogar dramatischer und hat nicht zum Ruin geführt.

STANDARD: Eine alternde Gesellschaft führt folglich nicht zwingend zum Niedergang?

Bosbach: Im Gegenteil. Welchen Ländern geht es wirtschaftlich gut auf dieser Welt? Staaten mit einer alten Bevölkerung. Wem geht es schlecht? Den jungen Ländern.

STANDARD: Wie wirkt sich die jüngste Flüchtlingswelle aus?

Bosbach: Dass wir genug Arbeitskräfte in Deutschland haben, wäre für die politische Rechte ein Argument gegen Zuwanderung. Da bin ich aber dagegen: Lassen wir zusätzliche Arbeitskräfte zu uns kommen und arbeiten dann alle ein bisschen kürzer. Rein demografisch hat sich die Lage durch die Flüchtlinge massiv entspannt.

STANDARD: Warum ist Bevölkerungsentwicklung so stark in den Fokus gerückt?

Bosbach: Mitte der 1990er-Jahre war Demografie ein staubtrockenes Thema für eine Handvoll Statistiker. Sonst hat das keinen interessiert. Wie ist das auf einmal zum Topthema geworden? Das haben Leute mit Absicht in die Öffentlichkeit gebracht, sonst wäre das nicht passiert. Heute muss man Demografie nur erwähnen, und die Leute fangen zu zittern an.

STANDARD: Wer sind diese Leute? Und was sind deren Absichten?

Bosbach: Das ist eine breite Bewegung, die mit viel Geld Öffentlichkeitsarbeit gemacht hat. Das sind in Deutschland vor allem die Unternehmerverbände. Das ist keine Verschwörungstheorie, die Unternehmen sagen selbst, dass sie die Lohnnebenkosten senken wollen. Deren größter Bestandteil sind Renten. Nur durch Demografieangst konnten sich die Unternehmer von der paritätischen Finanzierung (gleich hohe Beiträge von Arbeitgebern und -nehmern, Anm.) verabschieden.

STANDARD: Welche Rolle spielt die Finanzbranche? Sie hat massiv von privater Vorsorge profitiert.

Bosbach: Die Versicherungen haben ein tolles, staatlich bezuschusstes und beworbenes Geschäft, das in der öffentlichen Diskussion als unabdingbar dargestellt wird. Daraus haben sie riesige Gewinne generiert, selbst in der Nullzinsphase.

STANDARD: Die Politik geht aber jetzt diesen Weg. Wird man nicht allein dadurch dazu gezwungen, privat vorzusorgen?

Bosbach: Das ist die Preisfrage, wie man damit umgeht. Wenn man genug Geld hat, sollte man etwas zurücklegen. Wenn das Geld knapp ist wie bei den meisten jungen Leuten, dann raubt man sich ein Stück vom Leben, wenn man das Geld eigentlich für etwas anderes braucht. Dann ist es der falsche Weg, denn die Sicherheit von auf 40 Jahre angelegtem Geld ist sehr gering. Etwas anders ist es, wenn man privates Wohneigentum anschafft.

STANDARD: Sind Investitionen zur Fixkostensenkung wie etwa Wärmedämmung oder Solardächer sinnvoll?

Bosbach: Ja, eindeutig.

STANDARD: Also auf reale Werte setzen. Dazu zählen auch Aktien. Wie stehen Sie dazu?

Bosbach: Wir haben jetzt eine große Nachfrage nach Aktien, das heißt die Preise sind sehr hoch. Wenn das demografische Problem tatsächlich kommen sollte, dann werden später die angesparten Aktien auf den Markt geschmissen. Wer soll die kaufen? Bei einem Überangebot wird der Preis massiv sinken. Wenn ich heute etwas anlege, bekomme ich mit hoher Wahrscheinlichkeit später weniger Geld dafür, wenn es wirklich ein Problem mit der Demografie gibt. Wenn nicht, brauche ich gar nicht anzusparen. (Alexander Hahn, 18.3.2017)