Bei der New Yorker Feuerwehr, so heißt es, nennt man einen Notfall in einer mit Müll vollgestopften Wohnung heute noch einen "Collyer". Das Brüdergespann Homer und Langley Collyer ist also auch 70 Jahre nach seinem Tod in aller Munde – 70 Jahre nachdem ihre Leichen aus mehreren Tonnen Schrott, die sie in ihrem Haus angehäuft hatten, geborgen wurden.

Youtube-Dokumentation über die Collyer-Brüder.
Fredrik Knudsen

Bereits vor dem 21. März 1947, als die Collyer-Brüder endgültig zu einem New Yorker Mythos avancierten, waren die beiden regelmäßiges Gesprächsthema im Big Apple. Eigentlich begann es ja schon mit ihren Eltern, Herman Collyer und dessen Cousine Susie Gage, die aus einer gutbürgerlichen New Yorker Familie stammten. Ihre Vorfahren waren bereits im 17. Jahrhundert ins Land eingewandert. Homer kam 1881 und Langley 1885 auf die Welt. 1909 kauften und bezogen die Collyers ein imposantes vierstöckiges Brownstone-Haus an der 2078 Fifth Avenue an der Ecke zur 128th Street in Harlem – einem damals noch vornehmen Viertel der Stadt.

Herman Collyer, ein Gynäkologe, galt als exzentrisch. Als Paradebeispiel dafür wird immer wieder angeführt, dass er den Weg zur Klinik, in der er arbeitete, mit dem Kanu über den East River zurückzulegen pflegte. 1919 trennten sich er und Susie Gage, eine ehemalige Opernsängerin. Sie blieb mit den beiden Söhnen im Haus, er zog in die 153 West 77th Street und verstarb 1923. Seine medizinischen Geräte vermachte er seinen Söhnen.

Nie aus dem Haus ausgezogen

Homer und Langley Collyer studierten beide an der Columbia University, Ersterer schloss in Jus ab und arbeitete schließlich in einer Anwaltskanzlei, während Letzterer Ingenieur wurde, aber als talentierter Klavierspieler sogar Auftritte in der berühmten Carnegie Hall hatte. Was sie allerdings in ihrem Leben nie zustande brachten: aus der 2078 Fifth Avenue auszuziehen. Bis zum Tod der Mutter 1929 lebten sie zu dritt in dem Haus, auch danach sahen die Brüder keinen Grund, auszuziehen, einen eigenen Weg einzuschlagen und vielleicht eine Familie zu gründen.

Bis Anfang der 1930er-Jahre, so berichteten Journalisten damals, dürften die Collyer-Brüder ein relativ normales Leben als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft geführt haben – auch wenn gewisse Eigenheiten der beiden schon auffielen. Homer etwa legte den kilometerweiten Weg in die Arbeit zwar nicht mit dem Kanu, aber zu Fuß zurück – trotz ansehnlichen Anwaltsgehalts machte er das, um Geld zu sparen. Seit 1917 gab es im Haus keinen Telefonanschluss, weil ihnen nach Meinung der Collyers Ferngespräche berechnet wurden, die sie gar nicht geführt hatten. Auch Strom und Wasser standen nicht zur Verfügung, nachdem die Versorger die Leitungen im Streit mit den Brüdern abgeklemmt hatten. Dafür wurde mit Kerosin geheizt.

Homer verliert seine Sehkraft

Mit dem Jahr 1933 zogen sich die Collyers langsam aus dem sozialen Leben zurück. Homer verlor seine Sehkraft aufgrund von Blutungen in den Augen, außerdem bereiteten ihnen die Veränderungen in Harlem große Sorgen. Infolge der "Großen Depression", die weltweit eine Wirtschaftskrise auslöste, entwickelte sich aus dem weißen Viertel der Mittel- und Oberschicht eine Gegend, in der mehr und mehr arme Afroamerikaner zogen. Einmal befragt, weshalb sich die Collyers so von der Außenwelt abschotteten, sagte Langley: "Wir wollen nicht gestört werden."

Als sich die Schrulligkeiten der beiden Brüder in Harlem herumsprachen, erschienen vor der 2078 Fifth Avenue immer wieder Schaulustige, die einen Blick auf Homer und Langley Collyer werfen wollten. Als Kinder die Fenster mit Steinen einschlugen, verriegelte Langley sie mit Holzbrettern. Und als Gerüchte die Runde machten, dass sich enorme Reichtümer in dem Haus befinden würden, kam es zu mehreren – erfolglosen – Einbruchsversuchen. Das war dann endgültig zu viel für den Zwangsneurotiker Langley Collyer.

Nachts auf Schrottsuche

Nun ging der jüngere der beiden Brüder immer nur im Schutz der Dunkelheit nach draußen, um im Park Wasser zu holen oder in Läden in anderen Stadtvierteln Lebensmittel zu kaufen. Dabei schleppte er stets irgendwelchen Kram mit nach Hause, Reifen, andere Autoteile, rostige Fahrräder, Bowlingkugeln, Schrott, den andere weggeschmissen hatten. Außerdem war er bei seinen Ausflügen immer wie ein Obdachloser gekleidet – aus Angst, er würde sonst ausgeraubt werden.

Daheim nutzte Langley sein Ingenieurswissen, um weiteren Einbrüchen vorzubeugen. Er stapelte den Schrott zu Bergen, dazwischen baute er ein verwinkeltes Tunnelsystem mit Schlingfallen: Sollte ein Einbrecher die Falle auslösen, würde ein riesiger Haufen Schrott auf ihn niederfallen. Für Homer und sich selbst bastelte er kleine "Nester" zwischen den Schrottbergen.

Neben seiner Sammelwut und seinen Sicherheitsmaßnahmen kümmerte sich Langley Collyer aber vor allem liebevoll um seinen älteren Bruder. Er kochte ihm und zerkleinerte sein Essen, wusch ihn, las ihm aus Büchern vor und sammelte unzählige Zeitungen für ihn, wie er bei einem der raren Kontakte mit der Außenwelt einer Nachbarin erzählte: "Ich hebe sie für Homer auf, damit er sie einmal lesen kann. Denn er ist alles, wofür ich lebe."

Orangen-Therapie gegen die Blindheit

Langley Collyer glaubte stets und unerschütterlich dran, dass sein Bruder seine Sehkraft wiedererlangen werde. Auf ärztliche Hilfe verzichteten die Medizinersöhne dabei aber, aus Angst, man könnte dabei Homers Sehnerven durchtrennen. Stattdessen setzte Langley Homer auf eine Spezialdiät, bestehend aus 100 Orangen in der Woche, Schwarzbrot und Erdnussbutter, die ihn heilen sollte. Erfolgreich war diese Therapie wenig überraschend nicht. Zudem litt Homer an Rheumatismus und konnte sich immer schlechter bewegen.

1939 kam es zu einem Massenauflauf vor dem Gebäude der Collyers. Arbeiter mussten die Stromzähler ausbauen, und tausende Schaulustige versuchten einen Blick auf die beiden zu erhaschen. Sie wurden nicht enttäuscht: Langley wirkte mit Schnauzer, chaotischer Frisur und Kleidung, die vor Ewigkeiten in Mode war, wie aus einer anderen Zeit. Dadurch interessierten sich mehr und mehr auch die Medien für das Brüdergespann. Sogar die renommierte "New York Times" widmete ihm einen Artikel und wiederholte Gerüchte von Nachbarn, wonach Homer und Langley Collyer in ihrem Haus in "orientalischem Luxus" schwelgten. Die "New York Herald Tribune" lobte sie als "Nonkonformisten".

Anonymer Anrufer

Am 21. März 1947 schließlich klingelte es beim 122. New Yorker Polizeirevier. Ein Anrufer, der sich als "Charles Smith" ausgab, sagte am Telefon, dass sich in der 2078 Fifth Avenue eine Leiche befinde – der dortige Geruch sei eindeutig. Die dorthin geschickten Beamten entdeckten, nachdem sie mühsam Einlass gefunden hatten, schließlich weder Reichtümer noch orientalischen Luxus, sondern nach fünf Stunden Wühlen durch die Müllberge den toten Homer Collyer. Er war verhungert. Doch wo war Langley, der sich sonst so liebevoll um ihn kümmerte?

Die Polizei vermutete anfangs, dass er der Anrufer war und flüchtete, bevor die Beamten eintrafen. Das FBI schaltete sich ein und suchte ihn landesweit. In verschiedenen Teilen der USA soll er angeblich immer wieder einmal gesehen worden sein. Der sowjetische UN-Botschafter Andrej Gromyko scherzte bei einer Sitzung einmal: "Wer weiß, vielleicht erfahren wir heute, wo Langley Collyer steckt?"

Unterdessen räumten Arbeiter und Polizisten den ganzen Müll aus dem Haus aus. Stets war ein Beamter vor dem Haus postiert für den Fall, dass Langley Collyer zurückkehrt. Doch als er nicht am Begräbnis seines Bruders am 1. April 1947 teilnahm, vermuteten die Ermittler langsam, dass auch Langley tot sein könnte.

Eigene Falle ausgelöst

Am 8. April schließlich entdeckte man Langley Collyer – unter Bergen von Müll im Haus, und nur wenige Meter entfernt von dem Platz, wo Homer lag. Vermutlich hatte er seinem Bruder Essen bringen wollen und dabei versehentlich eine seiner eigenen Fallen ausgelöst. Unter dem Müll begraben, dürfte er erstickt sein. Beamte, die die Leiche sahen, gaben später zu Protokoll, dass er eine Hand in Richtung seines Bruders ausstreckte – dem er nun nicht mehr helfen konnte. Der Anrufer stellte sich später als ein Nachbar heraus.

Nachdem der letzte Müll aus dem Haus getragen war, ließ die Stadt New York es abreißen. Dort gibt es seit den 1960er-Jahren einen kleinen Park, benannt nach den Collyer-Brüdern. Der ganze Schrott wurde bei einer Auktion versteigert, der Erlös betrug nur wenige tausend Dollar. Dabei waren es mehr als 120 Tonnen. (Kim Son Hoang, 21.3.2017)