Eine Etüde über Selbstverlust und überalltagsgroße Passion: Lukas Bärfuss.


Foto: Frederic Meyer

Lukas Bärfuss, "Hagard". € 20,50 / 176 Seiten. Wallstein-Verlag, Göttingen 2017

cover: wallstein

Nicht der Duft der Frau ist es. Nicht ihr Gesicht. Sondern die pflaumenblauen Ballerinas aus Kalbsleder sind es, die dem Immobilienentwickler Philip so auffallen, dass er ihrer Trägerin nach einem nicht eingehaltenen Verkaufsgesprächstermin folgt, durch Zeit und Raum. Er kennt die Frau nicht. Er weiß nicht, wer sie ist, noch ihren Namen, noch wie sie aussieht. Denn ihr Gesicht erblickt er nie. Er folgt ihr durch die Stadt, diffus als Zürich gezeichnet, in die Trambahn, zur Regionalbahn, die sie vor die Stadtgrenzen bringt, in ihm unbekanntes Terrain.

Vor dem Haus, in dem sie wohnt, verbringt er die kalte Nacht, es ist Mitte März des Jahres 2014. Am nächsten Morgen folgt er ihr zurück in die Stadt, in das Bürogebäude, in dem sie arbeitet. Mittlerweile hat er sein Geld verloren und einen Schuh, der Akku seines Handys ist fast leer. Weiter folgt er ihr, zu einer Präsentation und wieder zu ihrem Wohnhaus. Dann, gerade einmal 36 obsessive Stunden sind verstrichen, verunglückt er, als er versucht, in ihre Wohnung einzudringen.

Wandern als Aufbruch und Flucht und das Scheitern von Untergehern hat eine durchaus respektable Tradition in der Schweizer Literatur der Moderne, von Ludwig Hohls Bergfahrt, die, 1928 begonnen, erst 1975 gedruckt wurde, bis zu dem 2014 erschienenen Roman Bei 30 Grad im Schatten des 1980 geborenen Lorenz Langenegger.

Vor einem Jahr schickte der in Winterthur lebende Autor Peter Stamm in Weit über das Land in trittfest knappen Sätzen einen Mann auf Wanderschaft, einen Buchhalter, der aus allem ausbricht. Ein Gleichnis sollte das Buch mutmaßlich sein auf die Buchhaltung eines leeren Lebens, Sinnbild von Ordnung, Unordnung, leisem Leid und existenzieller Leere.

Irritierend war der Roman aber in erster Linie, weil sich Stamm jeglicher tiefenpsychologischen Auslotung und Schärfeneinstellung zur Gänze entschlug. 2010 konnte man übrigens vom Amerikaner Joshua Ferris verblüffend Ähnliches lesen. In Ins Freie, im Original The Unnamed betitelt, schickte der Autor aus Brooklyn einen Mittelstandsbürger auf eine existenziell durchrüttelnde Fußreise quer durch die Vereinigten Staaten.

Demobilisierung

Nun schließt sich dieser Riege der 1971 geborene und in Zürich ansässige Lukas Bärfuss mit einer Etüde über Selbstverlust und überalltagsgroße Passion an. Ähnlich wie bei Max Frischs Homo faber vollzieht sich bei seinem Protagonisten Philip Schritt für Schritt eine Demobilisierung, eine Reduktion, ein Abstieg vom Chauffieren eines noblen Gefährts zum einbeinig Beschuhten, der streng riecht.

Mit dieser Auflösung des Selbst geht bei Bärfuss aber eine durchweg misslungene, weil peinlich erzwungene Parallelisierung mit der Gegenwart einher, mit dem ungeklärten Absturz des Flugs MH 370 der Malaysia Airlines über dem Indischen Ozean, mit flacher Kritik an den flachen Gerätschaften des digitalen Lebens, mit aktuellen politischen Vorgängen wie der Annexion der Krim. Interessiert sich Bärfuss, der sich als Dramatiker einen Namen gemacht hat, tatsächlich für die Beschreibung eines Zusammenbruchs, einer sich auf einen Punkt verengenden, dabei erstaunlich leidenschaftslosen Psyche? Keineswegs. Dieser Philip, der wenige Tage vor einem lukrativen Immobiliendeal auf den Kanarischen Inseln steht, und seine Beweggründe fürs Bewegen wollen an keiner Stelle einleuchten.

Keine Strahlkraft

Ohne dass sein Rätsel mysteriöse Strahlkraft aufweist, gerät dieser Mittvierziger zur Marionette, zur hölzernen Bewegungsfigur in einem dramaturgisch erstaunlich überraschungsfreien Spiel, das vieles ist, nur keine Charade über verpasstes Leben.

Allzu vermessen ist es seitens des Verlags, diesen abzüglich Werbeseiten und Impressum gerade einmal 173 Seiten umfassenden Text, der mehrfach schon annonciert und dessen Erscheinen wieder und wieder verschoben worden ist, "Roman" zu nennen. Besser, aber eben nicht verkaufsfördernd wäre in diesem Falle wohl Novelle gewesen. So unentschieden wie zwischen Physis und Psyche schwankend, so unentschieden ist auch der Tonfall, bei dem sich Bärfuss nie so recht zwischen überkomplex konstruierten Sätzen in der Manier eines Heinrich von Kleist, einer gewissen mythologischen Aufladung und einem vorwärtstreibenden Duktus entscheiden kann. Noch verwirrender, weil noch distanzhaltender ist die Position des Ich-Erzählers. Einerseits erscheint er wie ein allwissender Erzähler, der aus dem Rückblick detailliert, auch mit Inneneinsichten, dabei skrupulös von Philip erzählt. Allein die ersten sechs Seiten sind seine gewundene, um nicht zu sagen reichlich überflüssige Einstiegsdebatte darüber, nicht den richtigen Einstieg finden zu können.

Andererseits verweist die erste Person Singular bekanntlich auf vieles, nur nicht auf Omniszienz. Mal vermutet man in ihm eine Art Begleit-, wenn nicht Schutzengel, dann eine erläuternde Stimme aus dem Off, an anderer Stelle einen Berichterstatter, der sich von seiner Marionette Philip überraschend überrascht zeigt.

All dies ist wenig bis nicht überzeugend und der nicht aufgelöste konstruktive Generalmalus dieser erstaunlich ungerührt lassenden Geschichte. (Alexander Kluy, Album, 18.3.2017)