Mit bis zu 25 km/h gleitet ein Lastenrad mit E-Motor durch die Straßen.

Foto: Stephan Renner

Kinder, Einkäufe, Krimskrams. Mit einem Lastenrad lässt sich (fast) alles transportieren.

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Auch fragile Fracht.

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Dass Verkehrsplanung vom motorisierten Individualverkehr aus gedacht wird, ist nicht überall so. Im Bild eine Bodenmarkierung in Brüssel.

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Am Wochenende beginnt im Wiener Museumsquartier die Europäische Lastenradkonferenz (#ECLF17). Pünktlich dazu unterstützt die Stadt Wien den Kauf von Lastenrädern durch eine Anschaffungsförderung. Aber was sind das für Räder, und wie können sie die familiäre Logistik unterstützen? Ein Familienrad ist ein Lastenrad – speziell ausgelegt für die Bedürfnisse von Familien. Also für den Transport von großen und kleinen Kindern, Einkäufen, Spielzeug, Musikinstrumenten oder Geschenken. Es ist Kinderwagen, Scheibtruhe und Fahrrad in einem.

Nicht ohne unser Lastenrad

Wir leben in Wien und fahren ein gemütliches Hollandrad mit einer Ladefläche zwischen Lenkstange und Vorderrad. Wir haben es aus Belgien mitgebracht, wo wir ein paar Jahre lang lebten. Während wir das Familienradrad zunächst vor allem deswegen angeschafft hatten, weil das Baby noch zu klein war, um es auf einem Kindersitz zu transportieren, hat sich seither unser Leben und unsere Mobilität auf vielfältige Weise verbessert. Auch wenn die Kinder jetzt schon älter sind. Denn mit einem Familienrad eröffnen sich ganz neue Perspektiven auf die Stadt.

Zurück in Wien stellten wir fest, dass diese Räder bei uns noch relativ unbekannt sind. Nicht selten werde ich auf der Straße angesprochen, ob ich mir das Fahrrad selber gebaut habe. Und dass es so praktisch ist. Und dass doch viel mehr Leute mit solchen Rädern fahren sollten. Und dass sie als Kind auch gerne in so einer Kiste hätten sitzen wollen.

Praktisch und kostengünstig

Die Vorteile eines Familienrads liegen auf der Hand: Es ist es sehr praktisch, weil man individuell unterwegs sein kann, aber keinen Parkplatz suchen muss. Direkt vor der Schule "parken", den Wochenendeinkauf vom Weg aus der Arbeit mitnehmen, ohne auf einen Pkw angewiesen zu sein. Alles kein Problem. Außerdem kommen wir mit dem Familienrad viel schneller von A nach B. Wir müssen keine Zeit für Staus oder Wartezeiten bei den Öffis einplanen, und unsere eigene Muskelkraft, unterstützt von einem leisen Elektromotor, schiebt uns mit maximal 25 km/h an. Der Verkehr gilt bei uns nicht als Ausrede für das Zuspätkommen.

Ersetzt das Fitnessstudio

Mit dem Familienrad sind wir sicher unterwegs, weil wir durch die Bauweise unsere Kinder im Blick haben, Pkws immer Vorfahrt geben und daher defensiv fahren. Von Tür zu Tür sind wir trotzdem schneller, weil wir das Rad überall parken können und Autos im Stadtverkehr bewiesenermaßen auch nicht schneller als 25 km/h fahren – in Stoßzeiten sogar wesentlich langsamer. Noch ein Vorteil: Wir sparen uns durch das regelmäßige Pedalieren das Fitnesscenter und machen unser Herz-Kreislauf-Training am Weg von und zur Arbeit oder beim Transportieren der Kinder.

Ein Familienrad ist trotzdem verhältnismäßig günstig: Für ein wirklich schönes elektrisches Familienrad, das mit leisem Schnurren und konstanter Pedalkraft auf jeden Hügel gleitet, muss man etwa 20 Euro pro Woche rechnen. Treibstoffkosten schon mitbedacht. Unser Pkw kostet hundert Euro in der Woche, gerechnet mit Kapitalkosten und Reparaturen, aber noch ohne Treibstoff.

Die Minderheit hat den meisten Platz

Warum nutzen also noch nicht mehr Familien ein Lastenrad für ihre tägliche Logistik? Darauf gibt es mehrere Antworten. In Wien beispielsweise wurden im Jahr 2015 insgesamt 73 Prozent der Wege nicht mit dem Pkw, sondern mit dem öffentlichen Verkehr, zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt. Bis 2025, so will es die Stadt in ihrer Mobilitätsstrategie, wird diese Zahl auf 80 Prozent steigen. Bleiben also nur mehr 20 Prozent der Wege, die mit dem Auto zurückgelegt werden. Der in einer Stadt begrenzt verfügbare Raum ist allerdings nicht 80:20, sondern 20:80 aufgeteilt: Für die bald nur noch 20 Prozent der mit Autos zurückgelegten Wege stellen wir 80 Prozent des Platzes zur Verfügung.

Dabei stehen die Autos die meiste Zeit, nehmen Platz von Gehsteigen oder möglichen Radwegen ein und tun das mit einem Parkpickerl für eine lächerlich niedrige Monatsmiete von nicht einmal 50 Cent pro Quadratmeter. Oft fahren diese Pkws aber auch, verrichten dabei wohl wichtige Mobilitätsdienstleistungen, verursachen mit ihren Verbrennungsmotoren aber auch den Feinstaub und die Stickstoffdioxide, die wir und unsere Kinder neben der Straße inhalieren müssen.

Mut für die Stadt der Zukunft

Womit wir bei der politischen Führung einer Stadt sind. Die braucht eine Vision davon, was eine lebenswerte Stadt ausmacht. Der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan von der Labour Party beispielsweise fördert den Radverkehr insbesondere aus Platzgründen, weil Autos viel Platz einnehmen und dieser Platz in der schnell wachsenden Stadt schlicht nicht mehr ausreicht für ein Auto pro Haushalt.

Anne Hidalgo, sozialistische Bürgermeisterin von Paris, spricht offen aus, dass das Recht auf saubere Atemluft für alle über dem Recht auf freie Autofahrt einer Minderheit steht und der Autoverkehr daher konsequent reduziert werden muss. In Wien will diese unbequeme Wahrheit niemand so deutlich aussprechen.

Autostadt Wien

Dabei ist Wien in vielen Bereichen einfach großartig, was in den diversen Lebensqualitätsumfragen bestätigt wird. Die Stadt hat im internationalen Vergleich etwa einen fantastisch ausgebauten öffentlichen Verkehr, der durch etwa 700 Millionen Euro jährliche öffentliche Förderung noch dazu sehr günstig für die Einzelnen ist. Es ist die Infrastruktur für den Individualverkehr, bei der Wien trotz wesentlicher Verbesserungen in den letzten Jahren nachhinkt. Wien ist noch immer eine Autostadt.

Es beginnt beim Fehlen räumlich getrennter Radwege auf größeren Straßen, die auch mit Kindern ohne Lebensgefahr befahren werden können, und endet beim Fahren gegen die Einbahn, das auch in Wien – wie in anderen Städten – generell in allen Straßen möglich sein sollte. Während im öffentlichen Verkehr mutige und zukunftsweisende Entscheidungen für seinen Ausbau getroffen werden, soll der motorisierte Individualverkehr offenbar von selbst verschwinden, wenn nur genug Straßenbahnen und U-Bahnen fahren.

Fürs Auto zahlen alle

Das ist aber nicht der Fall. Denn es gibt individuelle Mobilitätsbedürfnisse, die nur durch individuelle Mobilitätslösungen gestillt werden können, etwa mit dem eigenen oder geliehenen Auto, verstärkt aber auch durch andere Möglichkeiten wie Transport- oder Familienräder. Viele wollen nämlich nicht mit dem Auto fahren. Da aber viele in Wien noch keine annehmbare Alternative für ihre Mobilitätsbedürfnisse kennen, ist das Auto vermeintlich noch immer die angenehmste Lösung. Die Kosten dafür sind in den Kapitalkosten versteckt und werden in Form von Luftverschmutzung und Platz auf die gesamte Gesellschaft übertragen.

Ein Familienrad ist kein Ersatz für die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, sondern ergänzt dieses Angebot. Es gibt ganz einfach Einsatzgebiete – wenn man zum Beispiel Kinder mit ihren Schultaschen oder Einkäufe transportieren will –, in denen ein Familienrad besser ist als jedes andere öffentliche oder individuelle Verkehrsmittel in der Stadt.

Weil Alternativen zum Auto im Individualverkehr in Wien noch relativ unbekannt sind, weil ein Lastenrad immer noch mit Erstaunen betrachtet wird, dafür aber unglaublich wichtige Funktionen übernimmt und in den nächsten Jahren noch mehr übernehmen wird, ist eine öffentliche Förderung für die Anschaffung eines Lastenrads ein logischer Schritt. Im Vergleich zu den jährlichen 700 Millionen für den öffentlichen Verkehr relativieren sich die einmaligen 200.000 Euro ohnehin recht schnell. Die volkswirtschaftlichen Nettoeffekte sind jedenfalls positiv, und mehr Lasten- und Familienräder werden der Stadt und ihren Familien guttun. (Stephan Renner, 18.3.2017)