Russisch-deutsch: Swetlana Alexijewitsch (links) und Adele Neuhauser lesen aus "Secondhand-Zeit"

Foto: Erhard Hois

Heidenreichstein – Was sie zur Diskussion sage, wurde Swetlana Alexijewitsch gefragt, die nach der Literaturnobelpreisverleihung geführt wurde: nämlich, ob es sich bei ihren dokumentarischen Erzählungen überhaupt um Literatur handle. "Kein Mensch stellt in Frage, ob eine Installation aus Alltagsgegenständen oder Fundstücken Kunst sei, wieso soll es in der Literatur nicht möglich sein? Ich mache aus dem, was auf der Straße liegt, Kunst. Jeder Mensch trägt eine Geschichte in sich, die der eines Dostojewskij würdig ist. Diese Geschichten verwerte ich."

Im Unterschied zu Historikern interessiert die Anwältin der sogenannten kleinen Leute nicht nur Fakten, sondern vor allem die Gefühle: "Wird man nicht verrückt, wenn man, egal unter welchen Umständen, Menschen tötet? Ich sehe die Welt nicht mit den Augen einer Historikerin, sondern einer Menschenforscherin." Und die Menschen öffnen sich ihr gegenüber, denn – so drückte es ein namenloser Held ihres Buches Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus aus: "Nur ein Sowjetmensch kann einen Sowjetmenschen verstehen."

Tschernobyl, verstrahlte Menschen, Afghanistankrieger, Kinder im Zweiten Weltkrieg, Auflösung der Sowjetunion und die Folgen für den Alltag der Menschen: Es war keine leichte Kost, die da zwei Tage lang bei Literatur im Nebel in der restlos ausverkauften Margithalle in Heidenreichstein (NÖ) von prominenten Schauspielerinnen und Schauspielern sowie Schriftstellern fünf Stunden täglich serviert wurde.

Seit elf Jahren findet das Festival im nördlichen Waldviertel (meist nebelfrei) statt – erstmals allerdings nicht im Oktober, sondern im März – und erstmals mit einer Literaturnobelpreisträgerin als Ehrengast.

Seit über 30 Jahren schreibt Swetlana Alexijewitsch an ihrer Chronik der roten Seele. "Der Sowjetmensch hat in Weißrussland überlebt", sagt sie. "Auf dem Territorium Weißrusslands, in seiner Erde, liegen 300 Bomben, jede einzelne hat die Sprengkraft der Hiroshima-Bombe. Die Menschen leben in einer Situation wie nach dem dritten Weltkrieg. Die Weißrussen sind wie Flugschreiber, die man nach einem Absturz findet und auf denen die Daten des Fluges verzeichnet sind."

Der Zusammenbruch der Sowjetunion habe den Menschen nicht Freiheit und Demokratie gebracht, sagte Alexijewitsch, die auch klare Worte für "Diktator" Lukaschenko und den "Irren" Putin fand: "Wir haben uns plötzlich unter lauter Ratten und Banditen wiedergefunden."

Als nächstes möchte Alexijewitsch sich allerdings nicht mehr mit der roten Seele beschäftigen, sondern über die Liebe und das Altern schreiben. (red, 20.3.2017)