Anatol Knoteks visuelle Poesie stürzt von der Wand in der Akademie Graz.

Foto: Knotek

Die Kodakschachtel von Hans Hansen ist tatsächlich ein Foto.


Foto: Han Hansen

Graz – Am Abgrund zu stehen, das assoziiert man gemeinhin nicht mit einer zukunftsfrohen Perspektive. Doch die Akademie Graz wagt sich zu ihrem 30-jährigen Jubiläum an das vermeintliche Ende heran – oder besser: an den Rand, um über hinauszublicken, mitten hinein in die Kreativität. Man tut das inhaltlich wie auch ganz pragmatisch. Nach drastischen, für viele unverständlichen Budgetkürzungen durch das Land, die unter anderem damit begründet wurden, die Akademie unter Präsidentin Astrid Kury würde zu viel Bildung in ihrem Programm haben, eröffnete man am Freitag die neuen Räumlichkeiten. Diese erweisen sich als perfekt für eine Galerie und liegen direkt gegenüber der prachtvollen alten Front des Joanneums im Parterre der Neutorgasse 42.

Am Rand, also am Existenzminimum zu arbeiten und zu leben, ist auch für die meisten Kunstschaffenden Alltag. Die Ausstellung, mit der Kury den neuen Standort einweihte, lotet visuell-poetische Brücken über Abgründen zwischen Bildern und Sprache aus – 101 Jahre nachdem der Dadaismus ausgerufen wurde. Bei Anatol Knotek stürzen die Ziffern seiner Arbeit Our Days Are Numbered, die man als Zahlen und Buchstaben lesen kann, gleichsam von der Wand hinunter auf den Parkettboden der Galerie. Zuzana Husárová befasst sich in ihrem mit Pistolenkugeln durchschossenen Triptychon On Posttruth mit faktischen Abgründen, die in der Ära Trump scheinbar keinen Boden mehr haben.

Der Schriftsteller und Herausgeber Günter Vallaster, der die Schau auch kuratierte, stellt neben seinem Y-verliebten Gedicht Als der Faden abryss das Bild eines Seiltänzers zischen Buchstabenschluchten aus, der tatsächlich in einen sprachlosen Abgrund stürzt.

Eine feministische Arbeit, die sich auch mit Selbsthass und Selbstverletzungen der Schönheit Willen auseinandersetzt, ist Sabine Maiers Atropa. Die Installation besteht unter anderem aus kleinen mit Tollkirschmarmelade gefüllten Gläschen. Eines davon soll gleich eine ganze Familie beim Frühstück auslöschen können. Darüber ist der Schriftzug: "Hass auf die anderen und eine Mahlzeit lang auf mich" auf die Wand projiziert.

Begrüßt und verabschiedet wird man von der Wandzeichnung von Claudia Klucaric, die sie nach einem Zitat von Michel de Montaigne "So viele Löcher in unserem Weg über die Erde" nannte. Man sieht, es gibt viele Abgründe. Manche können überwunden werden, wenn man nur größere Schritte macht.

Nicht der Abgrund, aber sicher das Spiel von Grenzen der Wahrnehmung, und der Einfluss von Licht auf diese sowie der Übergang von der Fotografie zur Grafik sind die Spezialität des deutschen Fotografen Hans Hansen. In der Camera Austria eröffnete – ebenfalls am Freitag – die erste Personale des renommierten Fotokünstlers, der sich als gelernter Grafiker seit den 1960er-Jahren intensiv mit analoger Fotografie beschäftigt, in Österreich.

Anette Kelm und Hendrik Schwantes stellten gemeinsam mit Hansen einen kleinen, feinen Ausschnitt aus fünf Jahrzehnten seines Schaffens zusammen, der absolut sehenswert ist. Ikonenhafte Produktfotografien sind da ebenso dabei – wie der in seine Einzelbestandteile zerlegte VW Golf -, wie Studien mit Wasser und Glas. Die beiden Flüssigkeiten, denn auch Glas ist ja eigentlich flüssig, kann man in manchen Schwarz-Weiß-Fotografien nicht voneinander unterscheiden. Dafür wurden oft Skulpturen des 1985 verstorbenen Designers Tapio Wirkkala abgelichtet.

In einigen Nahaufnahmen, in denen man jedes Staubkorn fast zu riechen vermag, setzte Hansen auch der analogen Fotografie selbst subtile Denkmäler. Ein schwarzes Tuch, mit dem sich Fotografen vor hundert Jahren vollkommen zudeckten, wird da etwa zum Hauptdarsteller. Oder die wie Druckgrafiken wirkenden Fotos von Kodakschachteln. (Colette M. Schmidt, 20.3.2017)