Vietnam ist eine aufstrebende Volkswirtschaft, zuletzt lag das Wachstum bei sechs Prozent im Jahr.

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Vu Thanh: Handel ist weder gut noch schlecht.

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Als eine seiner ersten Amtshandlungen unterzeichnete US-Präsident Donald Trump ein Dekret zum Ausstieg seines Landes aus dem transpazifischen Freihandelsabkommen TPP. Zwölf Staaten, darunter die USA, Australien und Japan, aber auch ärmere Länder wie Vietnam und Malaysia, hatten sich auf TPP geeinigt. Trump bezeichnete den von Barack Obama mitinitiierten Pakt als "Vergewaltigung" von US-Interessen. Verlierer sind laut dem Ökonomen Vu Thanh Tu Anh die ärmeren Länder.

STANDARD: Was bedeutet der Rückzug der USA aus TPP für Vietnam.

Vu Thanh: Die Entscheidung hat Unzufriedenheit ausgelöst. Vietnam hatte sich viel erwartet.

STANDARD: Was genau?

Vu Thanh: Das Abkommen hätte zu einem Katalysator werden sollen, damit endlich innerstaatliche Reformen in Gang kommen. Ein paar Beispiele: Staatsnahe Betriebe erwirtschaften ein Drittel der vietnamesischen Wirtschaftsleistung. In unzähligen Sektoren, von der Telekommunikation über die Luftfahrt bis hin zur Elektrizitätswirtschaft, hat der Staat eine Monopolstellung. Das Problem ist, dass die Betriebe ineffizient arbeiten. Sie sind nicht profitabel und benötigen viele Ressourcen.

STANDARD: TPP hätte das geändert?

Vu Thanh: Ich denke ja. Das Abkommen enthält nicht nur Vorschriften über die Abschaffung von Zöllen, es geht weiter. So gibt es darin ein Kapitel über staatliche Unternehmen. Vietnam hat sich verpflichtet, den anderen TPP-Ländern Informationen über seine Staatsbetriebe, deren Geschäftstätigkeit und ihre Bilanzen bereitzustellen. Solche Informationen sind für die vietnamesische Öffentlichkeit bis heute nicht zugänglich. TPP hätte Transparenz gebracht. Das Abkommen sollte zudem helfen, Vietnams Problem mit Urheberrechten zu lösen. Die meisten Vietnamesen sind es gewohnt, dass jede Computersoftware gratis erhältlich ist.

STANDARD: Via Schwarzmarkt?

Vu Thanh: Ja. Die gute Sache daran ist, dass sich alle, Unternehmer wie Familien, viel Geld ersparen. Doch solche Praktiken sind langfristig teuer, weil sie ausländische Firmen abschrecken im Land zu investieren, besonders im Hightech-Sektor. Mit TPP wäre Vietnam gezwungen gewesen, den Urheberrechtsschutz auszubauen. Schließlich gibt es noch einen Punkt: Viele haben sich erwartet, dass die Rechte von Arbeitnehmern mit TPP gestärkt werden.

STANDARD: Weshalb?

Vu Thanh: In Vietnam gibt es nur eine Gewerkschaft, jene der Kommunisten. Die Führungsebene dieser Gewerkschaft wird von der Regierung ernannt. Bezahlt werden die Gewerkschafter von den Betrieben, die sie beschäftigen. Die Gewerkschafter haben also keinen Grund, Arbeitnehmer zu vertreten, weil sie weder von diesen bestellt noch bezahlt werden. Damit gibt es keinen effektiven Schutz vor miserablen Arbeitsbedingungen. Vietnams Regierung hat nach langen Verhandlungen zugestimmt, dass in TPP das Recht der Arbeitnehmer auf freie Vereinigung verankert wird. Die Reformer bei uns haben gehofft, dass das auch umgesetzt wird.

STANDARD: Wer sind die Reformer?

Vu Thanh: In der kommunistischen Partei und in der Regierung gibt es verschiedene Fraktionen. Ein Teil will den Status quo erhalten. Doch eine Gruppe ist unzufrieden damit, wie Vietnam regiert wird. Die Probleme reichen von Umweltverschmutzung, Korruption bis zu Misswirtschaft. Der Druck von den Menschen ist ebenfalls gewaltig: Die Hälfte der Vietnamesen ist jünger als 35 Jahre. Die Jungen haben große Erwartungen an die Zukunft. Vietnam hat eine wachsende Mittelklasse. Die Menschen wollen mehr Freiheit, mehr Chancen, mehr Wohlstand. Das ist nicht im erwarteten Ausmaß gekommen.

STANDARD: Aber Vietnams Wirtschaft wächst stark.

Vu Thanh: Zuletzt waren es fünf bis sechs Prozent pro Jahr. Das ist wenig, wenn Sie diese Werte mit jenen in China, Südkorea oder Taiwan vergleichen. Hinzu kommt, dass sich unser Produktionsfortschritt verlangsamt hat. Noch vor zehn Jahren lagen die Zuwachsraten bei acht Prozent.

STANDARD: Es gibt international immer stärkere Kritik am Freihandel. Globalisierungsgegner sagen, der Handel nütze nur reichen Ländern.

Vu Thanh: Aus vietnamesischer Perspektive ist das leicht zu beantworten. Die Hinwendung des Landes zu einem marktwirtschaftlich orientierten System hat zig Millionen Menschen aus der Armut gezogen. Die Armutsrate liegt heute unter zehn Prozent. Für diesen Erfolg war neben innenpolitischen Veränderungen, die Integration des Landes in den Weltmarkt verantwortlich. Ohne die Exportwirtschaft wäre dies nicht möglich gewesen. Vietnam mit seinen 95 Millionen Einwohnern hat heute ein Bruttoinlandsprodukt, das etwa halb so groß ist wie jenes von Österreich. Der vietnamesische Markt ist also zu klein, allein der Binnenkonsum bringt keinen Wohlstand.

STANDARD: Wie sehen Sie den Vorwurf Trumps, die Öffnung der Märkte habe Millionen von Jobs in Industrieländern zerstört?

Vu Thanh: Vietnams größtes Exportgut sind Samsung-Smartphones. Allein im vergangenen Jahr haben wir Smartphones im Wert von 30 Milliarden US-Dollar exportiert. Das entspricht einem Fünftel der gesamten Exporte. Dann führen wir Textilien, Meeresfrüchte, Leder, Cashewnüsse, Kaffee aus. Ich glaube nicht, dass US-Amerikaner solche Jobs interessieren würden, dass sie massenhaft Nüsse oder Kaffeebohnen pflücken möchten. Was Arbeitsplätze vernichtet, ist die Automatisierung.

STANDARD: Macht TPP ohne die USA Sinn?

Vu Thanh: Es gibt darüber in der Region Diskussionen. Aber TPP ist zustande gekommen, weil alle irgendeinen Deal mit den USA wollten. Ohne die USA ist der Pakt nicht interessant. China führt derzeit eine neue Initiative an, die Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP). Dabei verhandelt die Volksrepublik federführend mit Indien, Südkorea, den Philippinen und anderen Ländern über ein Freihandelsabkommen. Dieses soll nur Zölle senken. RCEP soll nicht so weit gehen wie TPP. China ist engagiert. Japan und Südkorea, die auch mitverhandeln, sind aber skeptisch. Nun, da TPP Geschichte ist, wird RCEP sicher interessanter.

STANDARD: Beim G20-Treffen am Wochenende ist auf Widerstand der USA keine gemeinsame Erklärung gegen Protektionismus in der Weltwirtschaft zustande gekommen. Drohen neue Handelskriege?

Vu Thanh: Handel ist weder gut noch schlecht. Einige Länder profitieren, andere verlieren. Sinnvoll wäre es, sich den Fragen unaufgeregter zu nähern und nicht schwarzzumalen. Für sich entwickelnde Länder wie Vietnam ist es wichtig, interne Kapazitäten, ihre Produktivität, zu stärken. Gelingt das nicht, stoßen die Vorteile der wirtschaftlichen Integration an Grenzen. Ein Beispiel: Zwei Drittel von Vietnams Exporten werden von multinationalen Konzernen hergestellt. Nike, Samsung, Intel nützen Vietnam als Werkbank, weil Arbeit, Land und Strom billig sind. Vietnam bräuchte dringend mehr eigene Unternehmen, damit ein größerer Teil der Gewinne im Land verbleibt. (András Szigetvari, 21.3.2017)