Schätzungsweise an die 80 Millionen Menschen sind in Indien obdachlos. Vor allem Frauen und Angehörige religiöser Minderheiten werden am Wohnungsmarkt diskriminiert.

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Henri Tiphagne tritt seit Jahrzehnten für Menschenrechte in Indien ein.


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Madurai/Wien – Es war ein hitziger Schlagabtausch, den sich Indien und Pakistan vor kurzem vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf geliefert haben. Die Vorwürfe indischer Diplomaten wiegen schwer: Pakistan soll eine "Terrorfabrik" sein und religiöse Minderheiten misshandeln. Statt aber anderen so etwas vorzuwerfen, sollte Indien im eigenen Land an Verbesserungen arbeiten, sagt der indische Menschenrechtsaktivist Henri Tiphagne im Gespräch mit dem STANDARD. Als Obmann der Working Group on Human Rights in India and the UN (WGHR) verantwortete er den Bericht des NGO-Zusammenschlusses an die Uno mit, der mit in die Beurteilung der Menschenrechtslage des Landes einfließt. Im Mai wird Indien planmäßig zum dritten Mal vom UN-Menschenrechtsrat geprüft.

Tiphagne spricht von einer "Hoffnungslosigkeit", die auf dem Subkontinent im Zusammenhang mit Menschenrechten herrscht. Die Regierung von Premierminister Narendra Modi, so sagt er, habe ein größeres Interesse, sich international zu präsentieren, als sich mit den Problemen im eigenen Land auseinanderzusetzen.

Diskriminierung von Kasten

So besitzt Indien mit geschätzt an die 80 Millionen Obdachlosen eine der zahlenmäßig größten Gruppen von Menschen, die ohne Dach über dem Kopf leben. Diskriminierungen am Wohnungsmarkt sei für Frauen, religiöse Minderheiten und Angehörige unterer Kasten keine Seltenheit, so Tiphagne, der selbst keiner Kaste angehört, da er als Kind von einer französischen Ärztin adoptiert worden ist. Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Kaste ist in Indien eigentlich verfassungswidrig. Die Uno hat bei den ersten beiden Menschenrechtsprüfungen vor allem diese Benachteiligungen thematisiert. Die Regierung reagierte nicht. Erst nach Protesten im Land wurde das bereits bestehende Gesetz gegen Kasten- und Stammesdiskriminierungen um Rechtsmittel für Opfer erweitert.

Für Tiphagne ist das bezeichnend für das Vorgehen der indischen Regierung: "Globale Kritik interessiert in Neu-Delhi niemanden. Erst wenn der Druck im Land zu groß wird, wird reagiert", so der Menschenrechtsanwalt. In Anspielung auf Indiens Ambitionen auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat sagt er: "Indien will mehr Rechte in der internationalen Gemeinschaft, dann muss es sich auch von dieser Gemeinschaft in internen Angelegenheiten kritisieren lassen." Tiphagne spricht von einer "tief verwurzelten Ungleichheit" im Land. Um das zu ändern, braucht es seiner Meinung nach Menschenrechtsunterricht in den Schulen: damit sich das Denken der jungen Generation ändere.

Menschenrechtsunterricht

Verändern müsse sich laut dem Menschenrechtsanwalt aber nicht nur die Denkweise der Bevölkerung, sondern auch das Engagement der Regierung. Die Ausgaben für das Gesundheitssystem etwa haben laut WGHR bei 1,2 Prozent des Budgets stagniert. Mit der neuen Gesundheitsstrategie, die Mitte März verabschiedet wurde, verpflichtete sich der Staat, die Ausgaben auf 2,5 Prozent zu heben. Fünf Prozent brauchte es aber laut Tiphagne, um eine ausreichende Betreuung der Bevölkerung zu gewährleisten: "Wir wissen, dass wir die besten Krankenhäuser Asiens besitzen. Leute reisen nach Indien, um sich behandeln zu lassen, und gleichzeitig haben 70 Prozent der Bevölkerung keinen oder nur beschränkten Zugang zum Gesundheitswesen."

Heftige Kritik übt Tiphagne an dem Vorgehen der Regierung Modis gegen Hilfsorganisationen im Land. Seine NGO People's Watch wurde bereits vier Mal aufgrund des Foreign Contribution Regulation Act gesperrt. Das Gesetz überwacht ausländische Spenden an Hilfsorganisationen. Doch Menschenrechtsaktivisten werfen der Regierung vor, mit dem Gesetz gegen unliebsame Kritiker vorzugehen. Bei Tiphagne müssen nun mehr als 60 Mitarbeiter ohne Lohn weiterarbeiten. "Doch wir machen weiter", so der Anwalt: "In Indien gibt es nämlich mehr Dinge, auf die man stolz sein kann, als nur Yoga." (Bianca Blei, 24.3.2017)