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Den Rücktritt der Regierung unter Boiko Borissow sollte man als "taktischen Zug" des Ex-Premiers verstehen, sagt der Politologe Dimitar Ganew.

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Bulgariens konservativer Ex-Premier Boiko Borissow hat wieder einmal Neuwahlen provoziert. 2013 ging das für ihn daneben. Die Wahl am Sonntag ist wegen der neuen Stärke der Sozialisten das seit Jahrzehnten am stärksten umkämpfte Votum in Bulgarien, sagt der Sofioter Politologe Dimitar Ganew. Die Partei Dost, die von der Türkei unterstützt wird, schafft es seiner Einschätzung nach nicht über die Vier-Prozent-Hürde.

STANDARD: Die vorgezogenen Parlamentswahlen am Sonntag sind so etwas wie die "unnötigen Wahlen": Es gab doch eigentlich keinen Grund dafür, dass Regierungschef Borissow die Latte bei der Präsidentenwahl so hoch ansetzte und mit seinem Rücktritt drohte, sollte seine Kandidatin verlieren – was sie dann auch tat.

Dimitar Ganew: Boiko Borissow und seine Partei Gerb hätten ohne Zweifel auch nach der Präsidentenwahl ihre Mehrheit zum Regieren behalten. Den Rücktritt der Regierung sollte man als taktischen Zug Borissows verstehen. Borissow wahr sehr wohl bewusst, dass er mit einer solchen komplizierten Minderheitsregierung und den damit einhergehenden Kompromissen den Rückhalt in der Bevölkerung nach und nach verliert. Sein Scheitern bei regulären Wahlen 2018 wäre sicher gewesen. Als stärkste politische Kraft Neuwahlen zu provozieren mit einer realen Chance auf den Gewinn, um dann volle vier Jahre zu regieren, war eine trickreiche Entscheidung. Die große Frage ist, ob Borissows Rechnung am Sonntag tatsächlich aufgeht.

STANDARD: Es war ja nicht Borissows erster Rücktritt. Sind die bulgarischen Wähler seiner taktischen Züge nicht müde?

Ganew: Seine Zugkraft schwindet, die Unterstützung für Borissow ist jetzt geringer als im Jahr 2009, als er seine erste Wahl gewann. Dennoch ist Gerb seit 2009 die stärkste politische Kraft im Land. Dieses Mal aber scheinen Gerb und die Sozialisten der BSP erstmals gleich stark zu sein. Die Präsidentenwahl im November hat der BSP ziemlichen Schwung gegeben. Seit Jahrzehnten hat es Bulgarien keine dermaßen umkämpfte Parlamentswahl gegeben, wie wir sie am Sonntag haben werden.

STANDARD: Wie wird sich die Abspaltung auf die sehr einflussreiche, die türkischstämmigen Bulgaren vertretende Partei für Rechte und Freiheiten (DPS) auswirken?

Ganew: Die DPS steckt ohne Zweifel in der schwierigsten Lage seit ihrer Gründung. Ahmet Dogans Partei hat einen ernstzunehmenden Mitbewerber, die Partei Dost (des entlassenen früheren DPS-Vorsitzenden Ljutwi Mestan, Anm.). Ihre Hauptressourcen bezieht Dost aus der Türkei, deren Führung diese neue Partei unterstützt. Die Mehrheit der bulgarischen Migranten in der Türkei wird für Dost stimmen, doch in Bulgarien wird die DPS ihren Einfluss über die türkische Volksgruppe behalten. Die DPS wird wahrscheinlich rund 350.000 Stimmen erhalten, fast zehn Prozent der Wählerschaft, während Dost wohl nicht mehr als 40.000 Stimmen von den türkischstämmigen Bulgaren in der Türkei bekommt und noch einmal 60.000 bis 70.000 von jenen in Bulgarien. Das macht also rund 100.000 Stimmen, was nicht reicht für den Einzug ins Parlament. Wir haben eine Vier-Prozent-Hürde.

STANDARD: Es gibt wieder einen neuen Populisten, der bei dieser Wahl antreten wird – den Unternehmer Wesselin Mareschki aus der Hafenstadt Warna. Wird das ein Einmalereignis wie im Fall des seinerzeit, 2014, noch populären Fernsehjournalisten Nikolai Barekow?

Ganew: Wesselin Mareschki ist der einzige neue Akteur bei dieser Parlamentswahl. Sein politisches Kapital stammt im Wesentlichen von seinen Geschäftspraktiken im Mineralölhandel. Vor einem Jahr begann Mareschki, Tankstellen zu eröffnen, die Treibstoff zu niedrigeren Preisen als andere verkaufen. Auf diese Weise wurde er ein legitimer Vorkämpfer gegen Monopole und Kartelle in Bulgarien. Man muss dabei sehen, jeder neue Akteur in der bulgarischen Politik, der gegen den Status quo angeht, gewinnt einige soziale Unterstützung, und Mareschki ist hier keine Ausnahme. Aber es sieht nicht danach aus, dass seine Partei (bulgarisch Wolja, "Wille", Anm.) eine Stammwählerschaft bekommt wie Gerb oder BSP.

STANDARD: Das Aufkommen des Reformblocks gilt als eines der wesentlichen Ergebnisse des Protestjahrs 2013 in Bulgarien. Wie präsentiert sich dieses Bündnis rechter und liberaler Kleinparteien heute – klein und solide oder chaotisch und geschwächt durch den Absprung von Führungsfiguren?

Ganew: Die ernsthaften inneren Widersprüche im Reformblock begannen bereits 2014. Im vergangenen Jahr verließ dann eine der tragenden Parteien – die Demokraten für ein starkes Bulgarien (DSB) – das Bündnis, ihr Führer Radan Kanew gründete ein neues Projekt mit dem Namen "Neue Republik". Diese Spaltungen innerhalb der traditionellen bulgarischen Rechten sind nichts Neues. Eine andere neue Partei, die für sich das Erbe des Reformblocks beansprucht, ist "Ja, Bulgarien" des früheren Justizministers Hristo Iwanow. Doch trotz dieser Abspaltungen bleibt der Reformblock die einzige dieser politischen Kräfte, die eine Chance auf den Einzug ins Parlament hat, anders als Kanews "Neue Republik" und Iwanows "Ja, Bulgarien". (Markus Bernath, 25.3.2017)