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Kurz' Politik sei "populistische Attitude", schreibt Vertlib.

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Flüchtlingsboot vor der libyschen Küste am 20. März 2017.

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Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) lehnt die Menschenrettung durch NGOs vor der libyschen Küste ab. Die Aktivisten seien die "Partner der Schlepper", weil sie Bootsinsassen aus den lebensgefährlichen Untersätzen holen und sie nach Italien bringen – und sich die Schlepper darauf verlassen könnten.

Daher, so Kurz, müsse "der NGO-Wahnsinn beendet werden". Und die Boote im Auftrag der EU-Grenzsicherungsagentur Frontex, die ebenfalls vor Libyen kreuzen, müssten neben ihrem Beobachtungs- und Menschenrettungsmandat auch noch eines zum "Zurückdrängen von Booten" erhalten. Zurück nach Nordafrika, wo – in Tunesien und Ägypten – große Auffanglager zu errichten seien.

Das bedeutet, unterm Strich: Laut Kurz sollte es möglichst bald weniger Rettungsschiffe vor Libyen geben, und somit weniger Rettungen. Das wiederum kann bedeuten: mehr Tote. Denn dass sich dann weniger Menschen über das Mittelmeer aufmachen werden, ist nicht zu erwarten: die, die auf die Boote gehen, nehmen um den Preis möglichen Durchkommens ihren Tod bewusst in Kauf.

Politaufsteiger Nummer eins

Der 30-jährige Außenminister ist Österreichs Politaufsteiger Nummer eins. Ihm wird hierzulande vieles bis hin zum Kanzler-Werden zugetraut. Als ÖVP-Politiker stammt er aus bürgerlich-konservativen Kreisen, denen vielfach ein Nahverhältnis zum Christentum und seinen Werten zugesprochen wird.

Zur Nächstenliebe etwa, die – auch säkular – als helfendes Handeln gegenüber einem in Not befindlichen Nächsten verstanden wird. Etwa einem Menschen aus Afrika, der im Mittelmeer vor Libyen zu ertrinken droht. Wenn man die Nächstenliebe nicht, wie weiland FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache auf Wahlplakaten, mit Zusätzen wie "Liebe deinen Nächsten – für mich sind das unsere Österreicher" versieht. Oder die Nächstenliebe im Dienste der Abschottung Europas überhaupt ad acta legen möchte.

Gegen das Kopftuch, für das Kreuz

Bei einem anderen Thema zeigte sich Kurz weit "christlicher". Als es Anfang Jänner um ein Kopftuchverbot im Schulbereich ging, und die Frage diskutiert wurde, ob man dann der Gleichbehandlung halber nicht sämtliche religiösen Symbole entfernen lassen müsse, sprach er sich vehement gegen ein Kreuzverbot in Klassenzimmern aus. Die Kreuze nämlich gehörten zur"historisch gewachsenen Kultur in Österreich".

Wie ist das zu erklären? Warum deklariert ein junger österreichischer Politiker, einer aus der bisher wohl sakularsten Generation in diesem Land, seine Liebe zu einem christlichen Symbol an der Wand – während er angesichts des größten Werte- und Menschenrechtsskandals Europas, dem Ertrinken Tausender Flucht- und Migrationswilliger im Mittelmeer, auf Seiten der ausgeprägtesten Zyniker steht, die die EU bei diesem Thema zu bieten hat?

Haltungen wie Versatzstücke

Vielleicht, weil es Kurz gar nicht um Inhalte, Werte oder Haltungen geht? Sondern weil ihm diese großteils beliebig erscheinen – beliebig einsetz- und wieder verwerfbar, wie Versatzstücke? Diese These zumindest stellt der russisch-österreichische Schriftsteller Vladimir Vertlib in seinem Essay "der unpolitische Populist" auf. Der Text ist in Mo, der Zeitschrift der Menschenrechtsgruppe SOS Mitmensch, erschienen.

"Sebastian Kurz ist in Wirklichkeit apolitisch. Er hat keine Ideologie und wohl auch keine Visionen, die über das Persönliche hinausgehen", schreibt Vertlib – sich dabei unter anderem auf Schilderungen früher Weggefährten des heutigen Außenministers berufend: "Es geht ihm nicht wirklich um die Umsetzung nachhaltiger Konzepte, es geht auch nicht primär um Fakten, sondern um Stimmungen. Seine Politik ist populistische Attitüde."

"Emotionslos gemachte Bemerkung"

So sei sein Hochhalten des Kreuzes ebenso so erklären wie seine 2016 vor dem Schließen der Balkanroute "emotionslos gemachte Bemerkung, dass es .ohne furchtbare Bilder' (im Flüchtlingslager Idomeni) nicht gehen kann".

Bis jetzt habe sich Kurz profilieren können, ohne alles einlösen zu müssen, was er versprach oder anregte, schreibt Vertlib. Es stelle sich die Frage, was geschehe, wenn ihm die Macht dazu verliehen werde: "Sollte er dann den "Volkswillen" bestimmter Kreise tatsächlich konsequent umsetzen, stehen uns schwere Zeiten bevor." Und den übers Meer nach Europa Strebenden möglicherweise ein noch wahrscheinlicherer Tod in den Fluten. (Irene Brickner, 25.3.2017)