Was Aufmunterungen Läufern bringen

Ich kenne Viktoria nicht. Habe sie noch nie gesehen – weder im wirklichen noch im virtuellen Leben. Ich habe auch noch nie mit ihr geredet, gechattet oder auch nur von ihr gehört. Das beruht auf Gegenseitigkeit und wird wohl auch so bleiben. Ganz ohne irgendeine negative Konnotation: Auch wenn Wien ein Dorf ist, kann man unmöglich alle kennen – und wenn man dann einmal aus dem Dorf rauskommt … und so weiter.

Trotzdem strahlte ich, als ich Viktoria sah. Und freute mich. Obwohl sie eigentlich nichts tat – außer dazustehen: Die junge Frau stand an diesem Freitagmorgen mit ihrem schnell hingekritzelten Schild im Hof des Alten AKH in Wien, hielt es jeder Läuferin und jedem Läufer entgegen, der oder die ihr entgegenkamen – und lächelte. Und alle lächelten zurück.

Foto: Thomas Rottenberg

Der Campus, also das Alte AKH, ist kein Teil meiner Lauftrampelpfade. Es liegt aus meiner subjektiven Sicht genau jene paar Schritte von den üblichen und bequem, weil halbwegs verkehrsarm zu belaufenden Routen in der Stadt entfernt, die mich dort nie bewusst hinrennen lassen. Auch deshalb, weil das Areal in Summe doch ein wenig zu klein ist, um nur hier drinnen Kreise und Runden zu ziehen.

Obwohl das natürlich geht – und wirklich sehr, sehr schön ist: Die Höfe, die alten Gebäude, die Ruhe und das Grün überraschen mich jedes Mal wieder, wenn ich dann doch einmal hierher abbiege – so wie eben auch an diesem Morgen: von der Alser Straße in den großen Hof – und dann mit ein oder zwei Runden irgendwie runter zum Donaukanal. Denn so nett es sich hier auch "joggen" lässt (verwendet heute eigentlich noch jemand dieses Wort?), ist es dann aus meiner ganz subjektiven Sicht für längere Intervalle doch ein bisserl zu eng und verwinkelt.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich war, eh klar, nicht allein. Gut so. Vor fünf oder sechs Jahren habe ich die Läuferinnen und Läufer, die mir in der Stadt entgegenkamen, noch gezählt. Heute ist das sinnlos: Wien rennt – so wie jede Stadt. Und das längst nicht mehr nur in den Parks. Obwohl es dort natürlich feiner ist – solange man mit dem sich alle paar Minuten wiederholenden Bühnenbild samt immer gleicher Statisterie zufrieden ist.

Viktoria aber – ich weiß, ich wiederhole mich – wäre mir auch aufgefallen, wenn ich jeden Tag hier auf dem Campus meine drei oder vier Aufwachkilometer abspulen würde. Weil sie nämlich auch nicht jeden Tag hier steht.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich war neugierig geworden – und zog zwei Schleifen durch den Park: Die anderen Läuferinnen und Läufer liefen alle weiter. Achtlos? Oh nein! Ganz im Gegenteil: Auch wenn kaum einer oder eine mit grimmig-finsterer Miene auf die junge Frau zugelaufen war, hatten doch alle ein leichtes Lachen im Gesicht, nachdem sie an ihr vorbeigekommen waren. Nix Großes – einfach ein kleines Funkeln in den Augen, etwas, das man mit in den Tag nimmt und vielleicht ja auch weitergeben kann.

Ich blieb stehen. Fragte, ob das mit den Fotos eh okay sei, wer sie sei und warum sie hier stehe.

"Ich bin eigentlich Studentin – aber heute ist meine Vorlesung ausgefallen. Ich habe mich zuerst ein bisserl geärgert, dass ich die Zeit nicht selbst zum Laufen nutzen kann, und mir dann gedacht, dass ich stattdessen vielleicht anderen eine kleine Freude machen kann. Und bisher haben sich ja auch alle gefreut."

Foto: Thomas Rottenberg

In meiner Welt nennt man sowas "Karmapunktesammeln". Aber das kann und soll jeder nennen, wie er oder sie will. Meinetwegen dürfen Sie es auch kindisch oder lächerlich finden. Oder banal, vielleicht ja auch pathetisch. Ihre Sache – und mir egal. Obwohl: Nein, es ist mir eigentlich nicht egal. Weil ich es schade finde, wenn Menschen immer einen Grund, eine Ausrede, einen Tritt in den Hintern, eine hippe Trendgeschichte rundherum oder eine Belohnung brauchen, um anderen ein Lächeln zu entlocken. Oder das Lachen nur noch dann beherrschen, wenn es auf Kosten eines oder einer Dritten stattfindet.

So klein und unbedeutend, so flüchtig und kurzlebig die spontane Aktion der Studentin auf dem Campus auch war, so schön fand ich sie. Auch, weil Viktoria sich davon nichts versprochen oder erwartet hatte: keine Wette, keine versteckte Kamera, kein (geplanter) Facebook-, Insta- oder sonstiger Eintrag, um "Likes" zu sammeln. Und – außer dem kurzen und oft erst danach auftauchenden Lächeln der Vorbeilaufenden – wohl auch kein "Danke".

Die junge Frau hatte einfach nur anderen eine Freude machen wollen – und das finde ich schön.

Foto: Thomas Rottenberg

Nicht nur, aber auch und gerade beim Laufen. Das fiel mir auf, als ich dann vergangenen Sonntag beim Wien-Energie-Halbmarathon vorbeikam, um, erraten, Freunde anzufeuern: Natürlich gibt es auch Läufe, bei denen gerade die Ruhe, das Kontemplative und das Meditative zählen. Nur: Das sind dann eher keine Wettkämpfe. Und natürlich muss man immer und jeden Schritt und jeden Meter selbst laufen. Aber es macht einen gefühlten – also auch tatsächlichen – Unterschied, ob man da mutterseelenalleine durch die Gegend hirscht und dabei verzweifelt versucht, die, die da 100 Meter vor einem locker-beschwingt dahinfliegen, nicht aus den Augen zu verlieren – obwohl man sich selbst am liebsten weinend in einer Ecke zusammenrollen will –, oder ob da Leute am Straßenrand stehen. Und jubeln. Applaudieren. Schilder hochhalten. Die Hand zum Abklatschen in die Strecke halten. Oder sonstwas tun:

Angefeuert werden beim Laufen ist eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen man glücklich ist, wenn einem unverhohlen ins Gesicht gelogen wird: "Du schaust gut aus!" Nach 38 Kilometern? Schwachsinn – aber egal.

Und wo man nicht nur lügen darf, sondern lügen soll, kann und darf: "Du schaust gut aus!" Nach 38 Kilometern? Egal: Was wirkt, das gilt.

Foto: Thomas Rottenberg

In Wien – respektive in Österreich – gibt es da reichlich Luft nach oben. Schade, nicht nur für die Läuferinnen und Läufer, auch für das Publikum: Es ist nämlich auch für Nichtläuferinnen und -läufer nicht unspannend zuzusehen, wie Menschen mit Herausforderungen umgehen. Wie sich Kampf, Wollen, Verzweiflung, aber auch Erfolg in Gesichtern und Körpersprache widerspiegeln. Und welchen Unterschied es machen kann, Menschen in – für sie – Extremsituationen nur ein kleines aufmunterndes Wort zuzurufen. Egal ob man sie kennt oder nicht.

Die, die – so wie hier im Bild Sebastian Fellner, STANDARD-Innenpolitikredakteur – kommen, dafür zu dissen, dass sonst keiner da ist, trifft dann aber genau die Falschen. Die wenigen, die sich in Wien an die Strecken stellen, um Freunde anzufeuern und auch Unbekannten zuzujubeln, können ja nix für die Trägheit der anderen.

Foto: Thomas Rottenberg

Und dass in Berlin, in New York oder in Palma auch und gerade an den wenige zentralen Stellen oft Menschenmassen ihre eigene Party machen, ist dann umso schöner, wenn man anderswo läuft: In Wien ist auf der Inneren Mariahilfer Straße und auf dem Weg zum Ziel beim VCM in etwa so viel los wie in New York oder Berlin in Randbezirken. Okay, das ist ein wenig übertrieben – aber so wirklich Volksfest bis zum letzten Mann und zur letzten Frau gibt es hierzulande nicht. Da wird es dann auch am Ende des Feldes recht rasch recht mau am Straßenrand. Und das, obwohl gerade die, die weiter hinten laufen, Zuspruch noch viel, viel dringender brauchen als jene, die vorn ihren Halbmarathon in 1:15 oder ihren Marathon in weniger als 2:45 runterkurbeln: Rennen Sie einmal fünf Stunden allein – während sie wissen, dass alle anderen schon geduscht sind und sich im Eissalon (an dem Sie sich gerade vorbeischleppen) feiern lassen. Das ist hart. Richtig hart.

Foto: Thomas Rottenberg

Läufer wissen das. Und applaudieren. Feuern an. Laufen – wenn es die Strecke und die Fülle an Menschen auf dem Kurs zulassen und es sich um Läuferinnen und Läufer handelt, bei denen es außer um die eigene Leistung um keine Wettkampfergebnisse geht und obwohl es eigentlich nicht erlaubt ist – auch schon mal ein kurzes Stück mit.

Weil sie wissen: Beim Laufen kann man unendlich allein sein – muss es aber nicht. Aber man muss gar nicht einsam sein, um dann, wenn jemand am Streckenrand steht, lacht, klatscht, jubelt, einem die Hand hinstreckt oder ein – und sei es noch so ein banales und 1.000-mal gesehenes – Schild hochhält, selbst zu lachen. Aufzuwachen. Kraft zu schöpfen. Sich zu freuen – und mit einem kleinen Lächeln weiterzulaufen.

Und genau das zählt. Darum: danke, Viktoria! (Thomas Rottenberg, 29.3.2017)

Anmerkung: Alle hier abgebildeten Kinder wurden mit dem ausdrücklichen Einverständnis der sie begleitenden Erwachsenen fotografiert.


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Foto: Thomas Rottenberg