Heimst mit seinem Debüt viel Lob ein: Senthuran Varatharajah.

Foto: Heike Steinweg

Wien – Onlinebegegnungen müssen, anders als manche Apps und Werbungen es uns weismachen wollen, nicht immer unkompliziert und sexy sein. "Ich weiß nicht, warum ich dir das erzähle", beteuert eine der beiden Stimmen in Senthuran Varatharajahs Roman Vor der Zunahme der Zeichen. "Aber ich erzähle es dir." – "ich habe ins leere geschrieben. und du schreibst zurück, an stellen, an denen ich blind und taub für dich bin", wird ihr geantwortet.

Der Erfolg des Debüts in den Feuilletons überrascht wenig. Euphorische Kritiken und ein Dutzend Auszeichnungen, Nominierungen und Stipendien im Zusammenhang mit dem im März vorigen Jahres bei S. Fischer erschienenen Buch lassen sich ausmachen. 2014 hat Varatharajah sich mit einem Auszug beim Bachmann-Bewerb den 3sat-Preis erlesen, am Mittwoch erhält er den Hauptpreis der Rauriser Literaturtage (Eröffnung um 19 Uhr).

Denn auf 250 Seiten erzählt der 32-Jährige mit einer Sprache, die für ihr Sujet unüblich ist, von einem aktuellen Thema: dem Aufwachsen und Leben als Geflüchteter in einem fremden Land.

Bobo und Flüchtling

Das haben die beiden Figuren Senthil und Valmira neben den Initialen mit ihrem Schöpfer gemein. 1984 auf Sri Lanka geboren, kam Varatharajah mit seiner Familie in den 1980ern auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg nach Deutschland. Nach dem Studium in Marburg lebt er heute in Berlin.

Für Senthil hat Varatharajah auf diese Biografie zurückgegriffen. Sein Gegenüber, Valmira, stammt aus dem Kosovo. In der zeitgenössischen Variante eines Briefromans tauschen sie, auf Facebook über einen gemeinsamen Freund aufeinander gestoßen, per plattformeigener Chatfunktion innert weniger Tage vor allem Erinnerungen an ihre Jugend und Familiengeschichten aus.

Er Philosophiedissertant, sie Kunstgeschichtestudentin, sind sie mittlerweile in die globale Bobo-Welt integriert und Positivbeispiele für migrantischen sozialen Aufstieg durch Leistung (der Eltern), aber mit großer Vertraulichkeit teilen sie ähnliche Erfahrungen aus der Ankunftszeit: Heimunterbringung, Ausländerbehörde, Mobbing in der Schule, Garderobe aus der Altkleidersammlung.

Poetisch abgefedert

Dabei erweisen sie sich jeweils mehr als Erzähler denn als Zuhörer. Als legten sie es von Beginn an weniger auf ein Gespräch denn auf Literatur an, berichten sie neben detail- auch wortreich. Nicht eine nach der anderen, sondern gleich zwei oder drei Nachrichten gehen hin und her. Fragen gibt es kaum. Im fliegenden Wechsel fügen sich die Stichwörter.

Die direkte, ständige nacherzählende Rede wirkt dabei wie ein Puffer. Jeder Satz wird von ihr bei aller Härte manches Inhalts poetisch abgefedert, künstlich sanft. Aber nicht gefühlig. Prügel von einem Neonazi erlebt Senthil in der Rückschau wie folgt: "und ich schlug meine augen nieder und empfing fäuste wie ein verspätetes geschenk."

Es geht aber auch konkreter. Sätze wie "Wenn meine Mutter im Supermarkt Verkäufern eine Frage stellt, wird sie von ihnen geduzt. Sobald sie ihren Mund öffnet und sie ihren Akzent hören, sprechen sie mit ihr, als wäre sie ein Kind", treffen direkt. Vom rosa Buntstift im Kindergarten, dessen Farbe "wir hier hautfarbe nennen", bis hin zum Mailprogramm, das ihren Namen rot unterwellt "wie ein falsch geschriebenes Wort", strotzt der Text vor mal überzeugenderen, mal allzu stark aufgeladen wirkenden Markierungen des Fremdseins. Allerdings erreicht er so eine ziemlich exemplarische Bandbreite.

Man muss sich bloß ein wenig auf die Konstruktion, der man den studierten Philosophen und Kulturwissenschafter als Autor anliest, einlassen. Fein säuberlich platzierte Momente, die irgendwie ätherisch wirken, tragen dann statt eines Spannungsbogens. (Michael Wurmitzer, 28.3.2017)