Selbstbehalt ist freiwillig: Wer zu Wahlärzten geht, zahlt.

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Die Krankenkassen erstatten nur einen Bruchteil zurück.

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Während die Politik über die Erhöhung des Selbstbehalts diskutiert, greifen immer mehr Patientinnen und Patienten tief in die eigene Tasche, um ärztliche Leistungen selbst zu bezahlen. Sie gehen zum Wahlarzt oder zur Wahlärztin. Von diesen Medizinern ohne Kassenvertrag erwarten sie sich schnellere und bessere Behandlung.

Mangel an Kassenarztstellen besteht bundesweit vor allem in der Augenheilkunde und der Dermatologie. Zu Engpässen wird es in den nächsten Jahren, bedingt durch Pensionierungen, auch bei den praktischen Ärztinnen und Ärzten kommen. Der Mangel an Kassenstellen ist systemimmanent. Denn die Anzahl wird zwischen den Kassen und der Ärztekammer (standespolitisch) ausverhandelt.

Besuche bei Allgemeinmedizinern stagnieren laut Statistik des Hauptverbands der Sozialversicherungsträger, die Frequenz in den Privatpraxen von Fachärzten und Fachärztinnen steigt. Die Hintergründe ließ der Hauptverband durch eine Umfrage des Marktforschungsinstituts GfK untersuchen. 43 Prozent der Befragten haben innerhalb eines Jahres mindestens einmal einen Wahlarzt oder eine Wahlärztin besucht, ergab die 2016 erstellte Umfrage.

Keineswegs freiwillig

Nicht immer landet man freiwillig in der Privatpraxis, wie ein Beispiel zeigt: Frau A. ist 75, chronisch krank, lebt auf dem Land. Sie wird 24 Stunden am Tag betreut. In ihrem Dorf hat sich sehr zur Freude der alten Frau ein Augenarzt angesiedelt. Sie braucht nun kein Taxi mehr, kann sich im Rollstuhl hinschieben lassen.

Erst beim Besuch erfährt sie, dass der Arzt keinen Kassenvertrag hat. Sie muss das vom Arzt selbst festgesetzte Honorar also aus eigener Tasche bezahlen und bekommt dann, falls ihr jemand bei der Einreichung an die Gebietskrankenkasse hilft, 80 Prozent des Kassentarifs, der meist viel geringer als das Arzthonorar ist, rückerstattet. Das bedeutet, dass sie den Großteil der Rechnung selbst bezahlen muss. Ähnlich ergeht es ihr mit den Leistungen der Physiotherapeutin. Frau A. benötigt Hausbesuche und spezielle Behandlungen, die viel kosten. Rückerstattet bekommt sie nicht einmal die Hälfte ihrer Ausgaben.

"Angebote einholen", rät Manfred Brunner, Obmann der Vorarlberger Gebietskrankenkasse und stellvertretender Vorsitzender der Trägerkonferenz des Hauptverbands. Preistabellen wie bei anderen Dienstleistern sucht man für Arztleistungen nämlich vergebens. "Der Arzt kann verlangen, was er will", sagt Brunner. Und das soll auch so bleiben, heißt es aus der Zentrale der Ärztekammer: "Gerade dieser Bereich ist noch nicht bürokratisch überladen und wird deswegen von den Kolleginnen und Kollegen gut angenommen." Die boomenden Frequenzzahlen in den Wahlarztpraxen zeigten die Patientenzufriedenheit, argumentiert die Ärztevertretung.

Doktor, sprich mit mir

Warum geht man trotz hoher Kosten in die Privatpraxis? Frau B., berufstätig und immer in Zeitnot, nennt ihr Hauptmotiv: "Ich will nicht Monate auf einen Termin warten." Nach dem Besuch beim neuen Hautarzt erzählt sie begeistert: "Die Behandlung war schnell erledigt, der Doktor hat mir sogar zur günstigeren Variante geraten, und dann hat er auch noch ausführlich mit mir geredet."

Kosten für das Wegschaben von Hautwucherungen und Reden: 110 Euro. Kein Problem für Frau B., sie hat eine Privatversicherung, die übernimmt die beachtliche Differenz aus Kassenanteil und Selbstbehalt.

Das ausführliche Gespräch ist das Hauptargument für das Aufsuchen einer Privatpraxis, ergab die Umfrage des Hauptverbands. 48 Prozent der Befragten sagten, Arzt oder Ärztin nehme sich mehr Zeit für Gespräche, für Untersuchungen und Befundbesprechungen. Der Wunsch nach Dialog und Beratung sei durchaus berechtigt, sagt GKK-Funktionär Brunner.

Seine Kasse, eine der finanziell gut gestellten im föderalen Kassensystem, habe die Honorarordnung für Vertragsärzte deshalb dem Bedürfnis nach Gesprächsmedizin angepasst. "Wir berücksichtigen Gespräche vom Telefonat bis zum Case-Management", sagt Brunner. So bekommt der Hausarzt, in der Regel erste Ansprechperson, mehr für die Kommunikation. Dauern Ordinationen oder Hausbesuche länger als 15 Minuten, erhalten Herr oder Frau Doktor pro weitere angefangene Viertelstunde zusätzliche Leistungspunkte. Für psychosomatisch orientierte Gespräche gibt es ab 20 Minuten Zusatzpunkte.

Abgegolten wird in Vorarlberg auch die Koordinationstätigkeit, das Case-Management für Menschen, die umfangreiche Betreuung verschiedener Stellen brauchen. Zehn Euro pro Patient und Quartal überweist die Kasse dafür. Im Bundesdurchschnitt erhielten Allgemeinmediziner mit Kassenvertrag 2015 pro Fall 56,76 Euro, sechs Euro mehr als 2010. Wahlärzte bzw. Wahlärztinnen sind in diesem Bereich mit einem Anteil von knapp zwei Prozent eine verschwindende Minderheit.

Lieber solidarisch als elitär

Trotz steigender Anzahl von Wahlärztinnen und -ärzten und wachsender Bereitschaft der Versicherten, selbst Leistungen zu übernehmen, will die Mehrheit weiter das gewohnte Gesundheitssystem. Eines, das allen Patienten gleichermaßen zur Verfügung steht. 63 Prozent der von der GfK Befragten, vor allem Frauen und Menschen, die in ländlichen Gebieten leben, gaben an, für dieses System nicht zusätzlich bezahlen zu wollen oder zu können. Die Zustimmung zu Eigenleistung steigt mit Einkommen und Kaufkraft und kommt eher von gutsituierten Männern.

Bei der Bedeutung der Versorgungswirksamkeit von Wahlärztinnen und -ärzten scheiden sich die Geister. "Sehr begrenzt", sagt der Hauptverband und verweist auf die Daten. Knapp 69 Prozent der ambulanten Versorgung werden durch Kassenärzte abgedeckt, der Anteil der Wahlärzte betrage hingegen nur fünf Prozent.

Weit über diesem Durchschnittswert liegt mit 14 Prozent die Gynäkologie und mit 13 Prozent die Psychiatrie. Als Grund dafür nennt der Hauptverband Versorgungslücken, bei der Gynäkologie vermutet man ein Gendermotiv. Die Mehrzahl der Kassenärzte sind männlich, Frauen gehen aber lieber zur Gynäkologin.

Alte Systeme aufbrechen

Eine Änderung des österreichischen Kassensystems – wie von der Industriellenvereinigung gefordert – würde für die Versicherten keine Vorteile bringen, ist der Vertreter der Vorarlberger Kasse überzeugt. Das Argument der Industrie: 21 Kassen mit unterschiedlichen Leistungen sind für Österreich zu viel. Vier Gebietskrankenkassen und eine Versicherung für Selbstständige könnten reichen.

Brunners Gegenargument: Die Reduktion hätte einen Moloch zur Folge, "ein von Wien ferngesteuertes Gesundheitssystem, in dem die Länder um Geld betteln müssten." Der Wunsch der Versicherten nach möglichst hohen Leistungen und wenig Bürokratie bliebe durch die Zentralisierung auf der Strecke. (Jutta Berger, CURE, 4.6.2017)