Psychische Erkrankungen sind vielschichtig – genauso vielschichtig sollte man bei deren Therapie ansetzen. Doch Versorgungsengpässe und Stigmatisierung lassen Betroffene oft weiter im Dunklen stehen.

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Psychische Erkrankungen sind alles andere als eine Seltenheit. Depression nahm bereits 2015 Platz eins in den WHO-Berechnungen zur weltweiten "Krankheitslast" ein. "Bis 2030 werden bereits drei psychische Krankheiten unter den Top fünf liegen: Depression, Alzheimer und andere Formen der Demenz und Alkoholsucht", sagte Psychiater Günter Klug, Vizepräsident von Pro Mente Austria, eines Dachverbands für psychosoziale Initiativen, bei einer Pressekonferenz in Wien.

In Österreich entfallen jährlich sechs Prozent der Gesundheitsausgaben auf die Therapie und sonstige Betreuung psychisch Kranker. Doch laut Berechnungen wird auch in Österreich bereits ein Viertel der "Krankheitslast" durch psychische Leiden verursacht, so die Vertreter des Verbandes.

Anstieg an psychischen Leiden

Absolut gemessen nehmen psychische Leiden zu, die sich aus lebensgeschichtlichen Ereignissen ableiten und etwa mit einer immer höheren Leistungserwartung und zunehmend prekären Dienst- und Einkommensverhältnissen in Zusammenhang stehen, wie Burnout. Auch Depression und Angststörungen werden heute deutlich häufiger diagnostiziert. Der Großteil der Zunahme dürfte hier aus der früher noch viel höheren Dunkelziffer kommen.

Den größten Zuwachs gibt es bei alterspsychiatrischen Erkrankungen. Das Demenzrisiko steigt ab dem 60. Lebensjahr signifikant, bei den über 90-Jährigen leidet jeder Dritte daran. Bis zum Jahr 2030 wird sich die Zahl der über 75-Jährigen verdreifachen, die der über 90-Jährigen vervierfachen. Dieses Bild lässt sich laut Klug aus internationalen Studien und den Erkenntnissen der täglichen Praxis ableiten.

Engpässe in der Versorgung

Der Experte nannte auch Daten, die für die anhaltende Stigmatisierung und Diskriminierung von Patienten, deren Umwelt und des Versorgungssystems für psychisch Kranke in Österreich sprechen. Zwar habe man mit der Psychiatriereform vor rund 30 Jahren die Zahl der Betten in psychiatrischen Krankenhausabteilungen und spezialisierten Kliniken heruntergefahren, doch sei es im niedergelassenen Bereich nicht zu einem ebenbürtigen Aufbau von Versorgungsangeboten gekommen.

"Mit – je nach Bundesland – 35 bis 55 Betten pro 100.000 Einwohnern liegt Österreich in der stationären Versorgung im europäischen Vergleich am unteren Ende der Skala. Mit 14,6 Psychiatern pro 100.000 Einwohnern stehen bei uns auch deutlich weniger Fachärzte zur Verfügung als im OECD-Durchschnitt", sagt Klug.

Die Konsequenz daraus: Rund 70 Prozent aller psychiatrischen Diagnosen und Verordnungen würden von Allgemeinmedizinern getroffen. Für die Behandlung beim Facharzt oder einen der wenigen Kassenplätze für Psychotherapie müssen die Betroffenen lange Wartezeiten in Kauf nehmen.

Lange Wartezeiten verlängern jedoch nicht nur das Leid, sondern können auch das Risiko einer Chronifizierung der Krankheit erhöhen. "Natürlich sind psychische Probleme umso schwerer zu behandeln, je länger sie ignoriert werden", sagt Werner Schöny, Präsident von Pro Mente Austria.

Prävention und Bewusstseinsschaffung

Aber auch an der Vorbeugung psychischer Erkrankungen müsse gearbeitet werden. "Mit jedem Euro, der in die Prävention gesteckt würde, ließe sich ein Vielfaches an Folgekosten einsparen", sagt Schöny. Beispielweise könnte eine Abschätzung der psychosozialen Situation in den Mutter-Kind-Pass integriert oder bei Vorsorgemaßnahmen wie der Gesundenuntersuchung angesetzt werden. "Obwohl wir wissen, dass es keine Gesundheit ohne psychische Gesundheit geben kann", gehe es dabei bisher fast ausschließlich um körperliche Gesundheitsrisiken.

Neben dem Aufbau und Betrieb von psychosozialen Strukturen ist es ebenfalls Ziel von Pro Mente Austria, die Diskriminierung psychisch Kranker abzubauen und psychosoziales Bewusstsein zu fördern. "Was unsere Gesellschaft auch braucht, ist 'Erste Hilfe für die Seele'", sagt Schöny. Die Menschen sollten lernen, auf die ersten Anzeichen psychischer Probleme und Erkrankungen zu achten und, besser noch, ihnen vorzubeugen. (red, APA, 30.3.2017)