Kanzler und SPÖ-Chef Christian Kern forciert mit Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil nun den Ausstieg aus dem EU-Umsiedlungsprogramm für Flüchtlinge. Diese Strategie birgt Risiken und Nebenwirkungen, so Experten.

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Wien – Angesichts des roten Abwehrkampfes gegen Flüchtlinge besinnen sich die Schwarzen dieser Tage offenbar ihrer christlich-sozialen Wurzeln: Die neuesten Schlagzeilen des Boulevards habe SPÖ-Chef und Kanzler Christian Kern mit seinem Ausstiegsversuch aus dem Umsiedlungsprogramm der EU zwar gewonnen, heißt es bei der ÖVP grimmig, doch nicht bedacht habe der Regierungschef, dass es sich bei der ersten Tranche um "fünfzig Kinder" aus Italien handle – konkret um unbegleitete minderjährige Asylwerber, wie es im Behördensprech heißt.

Was Bürgerliche in Hintergrundgesprächen ebenfalls zu bedenken geben: Dank Kerns Konfrontationskurs verscherze man es sich jetzt möglicherweise mit dem südlichen Nachbarn – und es sei "nicht auszudenken", wenn Rom als Revanche am Brenner "die Schleusen öffnet".

Ausgerechnet Innenminister Wolfgang Sobotka (ÖVP), der den Koalitionspartner mit seinem Begehren, endlich eine Obergrenze für Flüchtlinge auch gesetzlich festzuschreiben, regelmäßig in Rage versetzt hat, pochte hier zunächst auf die "Rechtsstaatlichkeit" und seine Verpflichtung, europarechtlich bindende Beschlüsse zu vollziehen – obwohl er selbst das Relocation-Programm für "falsch" hält, wie er versichert. Am Mittwoch goss ÖVP-Klubchef Reinhold Lopatka zusätzliches Öl ins Feuer. Angesichts des Interventionsschreibens Kerns an EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker höhnte er, es wäre besser gewesen, den Brief "an den Ottakringer Bezirksvorsteher" zu richten – eine Anspielung darauf, dass Wiens Bürgermeister Michael Häupl (SPÖ) Kern quasi über den STANDARD ausrichten ließ, dass er die ersten 50 Flüchtlinge quasi ung'schaut in seinem Heimatbezirk aufnehmen würde.

Links geblinkt

Die Regierung werde täglich populistischer, sagt der Politologe Thomas Hofer, und die FPÖ wisse sich keinen rechten Reim darauf. Der Streit um die Aufnahme von fünfzig Flüchtlingen sei zwar peinlich, die Übung könne aber gelingen, glaubt er. Sowohl SPÖ als auch ÖVP positionieren sich zwar dezidiert rechts entlang der FPÖ, könnten bei einer Wahlauseinandersetzung aber darauf verweisen, das bessere Personal und die besseren Konzepte zu haben. "Kern und Kurz sind immer noch verträglicher als Strache." Prinzipiell sei Außenminister Sebastian Kurz thematisch sehr gut aufgestellt und auch glaubwürdig. Für Kern stellt seine Neupositionierung aber eine Gratwanderung dar. "Er hat links geblinkt und ist rechts abgebogen", sagt Hofer. Wenn sich Kern nun zu weit rechts positioniere, dann könnte ihm der linke Flügel der Partei wegfallen. Davon müssten prinzipiell die Grünen profitieren. "Tun sie aber nicht", sagt Hofer. Er wundert sich, dass die Grünen derzeit so untätig seien. "Offenbar sind sie ganz mit sich selbst beschäftigt."

Wiens Bürgermeister Häupl habe dieses Dilemma erkannt, blitzschnell darauf reagiert und versucht gegenzusteuern, indem er erklärte, die fünfzig Flüchtlinge würde er in Ottakring unterbringen. Häupl befestige immer noch die linke Flanke.

Ähnlich sieht das der Meinungsforscher Peter Hajek. Für Kern bestehe die Gefahr, im linken Spektrum zu verlieren, allerdings stelle sich die Frage, wohin. Die Grünen geben derzeit nicht das beste Bild ab, konstatiert Hajek. Und wenn es in einer Wahlauseinandersetzung darum gehe, ob die SPÖ den Kanzler stellt oder möglicherweise die Grünen Juniorpartner in einer Dreierkoalition werden, würden selbst enttäuschte Linke eher noch Kern als Eva Glawischnig wählen.

Bogen überspannt

Mit dem aktuellen Kurs würde die Regierung den Freiheitlichen tatsächlich Paroli bieten und bei einem breiten Teil der Bevölkerung reüssieren – auch wenn die aktuellen Streitereien dabei keine Hilfe seien. "Geht die Regierung diesen Weg aber weiter", warnt Hajek, "besteht die Gefahr, dass sie den Bogen überspannt" – dann nämlich, wenn man keinen Unterschied zur FPÖ mehr wahrnimmt.

Für den Politologen Peter Filzmaier machen die rechten Überholmanöver beider Regierungsparteien "mit zwei Lenkern" wenig Sinn. Denn profitieren könnten die Koalitionäre nur gegenüber der FPÖ und dem womöglich erstarkenden Lager der Nichtwähler, wenn sie hier gemeinsam einen konsequenten Kurs einschlagen würden. Wegen des täglichen Hickhacks verhielten sich beide Parteien aber wie Gegner – und das, obwohl es zwischen Rot und Schwarz ohnehin kaum Wechselwähler gebe.

Für die SPÖ gibt der Experte zu bedenken, dass es als Mitte-links-Partei eher bei den Agenden Arbeitsplätze, Bildung und Gesundheit Stimmen zu holen gäbe als beim Flüchtlingskomplex. Kerns Profilierungsversuche mit einem EU-kritischen Kurs machten als innenpolitisches Signal nur dann Sinn, wenn bald gewählt werde – und nicht erst im Herbst 2018. Denn wenn der Kanzler nach seinem anvisierten Ausstieg aus Ceta und dem EU-Umsiedlungsprogramm weitere eineinhalb Jahre lang auf aufmüpfige Politik gegenüber Brüssel – und das womöglich ohne Erfolg – setze, könnte ihm diese Strategie als Regierungschef à la longue mehr schaden als nützen. (Michael Völker, Nina Weißensteiner, 29.3.2017)