Wien – Die Politik kann Ungleichheit bekämpfen. In friedlichen Zeiten fehle ihr dazu aber meist der Wille, sagt der Stanford-Historiker Walter Scheidel im STANDARD-Interview. In der Vergangenheit hätten vor allem Kriege, Seuchen und Revolutionen dazu geführt, dass die Schere zwischen Arm und Reich zumindest für einige Zeit zuging. Nicht nur durch Zerstörung, sondern zum Beispiel durch den Ausbau des Sozialstaats nach dem Zweiten Weltkrieg. Scheidel macht mit seinem Buch "The Great Leveler" gerade Schlagzeilen. Er war auf Einladung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien.

Das geschriebene Interview wurde stark gekürzt. Das ganze Gespräch lässt sich hier und als Podcast nachhören (einfach in der App nach "STANDARD Economics" suchen).

STANDARD: Ungleichheit ist das Thema der Stunde. Wie hat sich diese Schere historisch entwickelt?

Scheidel: Materielle Ungleichheit hat es nicht immer gegeben. Während der letzten Eiszeit gab es nur Jäger und Sammler, die nichts besaßen, sehr wenig konnten und nichts hinterlassen haben. Das hat sich vor 10.000 bis 12.000 Jahren geändert: mit dem Beginn von Ackerbau und Viehzucht, als Leute sesshaft wurden und sich Staaten und politische Gebilde geformt haben, die wiederum eine kleine Oberschicht privilegierten. Im Laufe der Zeit wurde es möglich, immer größere Vermögen anzuhäufen, zu bewahren und über Generationen hinweg weiterzureichen. Wartet man lange genug, ergibt sich daraus oft ein hoher Grad von Ungleichheit, in Bezug auf Einkommen, vor allem auf Vermögen. Über tausende Jahre hinweg haben sich die Quellen der Ungleichheit verändert. In jüngerer Vergangenheit durch Marktwirtschaft, Kapitalismus, Industrialisierung. Näher zur Gegenwart durch Globalisierung, Automatisierung. Es gibt verschiedene Ursachen, im Endeffekt aber stieg Ungleichheit entweder langsam an oder stabilisierte sich auf einem sehr hohen Niveau.

"Die Zukunft wird vielleicht weniger friedlich, aber nicht instabil genug, um die Ungleichheit stark zu senken."
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STANDARD: Sie sagen, dass der Abstand vor Tausenden von Jahren genauso groß war wie heute?

Scheidel: In Prozentsätzen trifft das erstaunlicherweise zu. Ungleichheit hat eine sehr lange Geschichte. Während der Zeit der Römer sieht man bereits, dass die reichsten Römer um so vieles reicher waren als der Normalbürger, wie Bill Gates heute reicher ist als der Normalbürger in den USA.

STANDARD: Dennoch hat ein Mindestsicherungsbezieher in Wien eine höhere Lebenserwartung als ein Pharao im alten Ägypten,

Scheidel: Ich wäre in vielerlei Hinsicht viel lieber ein Mindestsicherungsbezieher in Wien als ein Pharao in Ägypten oder ein römischer Kaiser. Ich wäre gesünder, würde länger leben, hätte modernere Technologie zur Verfügung. Insofern ist die Weltgeschichte auch eine Erfolgsgeschichte. Die Definition von Armut, zumindest in westlichen Ländern, hat sich sehr stark geändert. Was heute im Westen als arm gilt, hätte noch vor wenigen Hundert Jahren als mittelständisch gegolten. Man muss Ungleichheit getrennt sehen von Einkommen und insbesondere von Armut. Armut hat weltweit sehr stark abgenommen, gerade in den letzten Jahrzehnten.

STANDARD: Sie sehen nur vier Faktoren in der Geschichte, in deren Folge Ungleichheit reduziert wurde. Diese Faktoren sind alle mit Gewalt und Tod verbunden: Krieg, Revolution, staatlicher Zusammenbruch, Seuchen. Was haben diese vier Umbrüche gemeinsam?

Scheidel: Dass sie bestehende gesellschaftliche Ordnungen sehr stark erschüttern, umwälzen und in einigen Fällen zerstören. Etwa Massenmobilisierungskriege wie der Erste und Zweite Weltkrieg, in denen Millionen Leute sterben, mit Zerstörung in großem Ausmaß und politischen Entscheidungen, die in dem Kontext getroffen werden. Es gab sehr extreme Formen von Revolution, vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in Russland oder China. Zusammenbrüche von Staaten, wie sie vor tausenden Jahren schon stattfanden, treffen alle, vor allem aber die Oberschicht, weil sie mehr zu verlieren hat. Der vierte Faktor ist ein bisschen ein Außenseiter: Epidemien wie die Pest im späten Mittelalter, bei der so viele Leute sterben, ohne dass die materielle Infrastruktur zerstört wird, die Löhne für die Überlebenden steigen, der Wert von Kapital und Land sinkt. Das ist einer der wenigen Fälle, in denen nicht nur die Reichen weniger reich, sondern die Armen etwas weniger arm wurden, zumindest eine Zeitlang.

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Dass einige Menschen Schaufeln brauchen, um ihres Vermögens Herr zu werden, fördert die Instabilität einer Gesellschaft, sagt der Historiker Walter Scheidel. Das zeige sich derzeit in den USA. An großen Ungleichheiten habe historisch aber immer nur Gewalt etwas geändert.
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STANDARD: Wir leben heute zwar in unfairen Zeiten, aber immerhin geht die Welt dabei nicht unter?

Scheidel: Das könnte man so ausdrücken. Historisch gesehen geht Stabilität in der Regel mit sich erhöhender Ungleichheit einher. Sie gibt die Möglichkeit, Vermögen zu bewahren und zu erweitern. Es gibt immer wieder neue Chancen für einen kleinen Teil der Bevölkerung, überproportional von wirtschaftlicher Entwicklung zu profitieren. Wirtschaftswachstum ist dennoch schön, denn es ist ja nicht so, dass die Ärmeren immer ärmer und die Reicheren immer reicher werden, wie das oft gesagt wird. Die Ärmeren werden durchgehend weniger arm, nur nimmt der Reichtum der Reichen schneller zu, als die Armut abnimmt. In den meisten entwickelten Ländern profitieren in unterschiedlichem Umfang alle von fortschreitendem Wirtschaftswachstum. Es öffnet sich nur gleichzeitig eine Schere zwischen den Privilegierten, die einen großen Teil der Gewinne abschöpfen, und dem Rest.

STANDARD: Die Schere in Zeiten des Friedens zu schließen scheint unmöglich?

Scheidel: Es gibt viele Möglichkeiten, sie stehen aber in einem kausalen Zusammenhang mit den Faktoren, die ich gerade genannt habe. Demokratisierung und die Stärkung von Gewerkschaften nach den Weltkriegen kann man durchaus als Folge von ebendiesen Umwälzungen interpretieren. Der Wohlfahrtsstaat basiert in nicht geringem Maße auf dem Umstand, dass der Staat erstmals während der Weltkriege imstande war, hohe Steuern einzunehmen und an Kapazität zu gewinnen. Nach 1945 wurde dies nicht mehr für Rüstung, sondern für Sozialausgaben benützt. Aber das Fundament wurde zwischen 1940 und 1945 geschaffen. Deshalb ist es oft schwierig, von friedlichen Faktoren zu sprechen, da sie in Wirklichkeit gar nicht so friedlich sind.

STANDARD: Sie meinen also, wir sollten uns mit den großen Unterschieden einfach abfinden?

Scheidel: Man könnte sagen, wir wissen, wie man eine gänzlich faire Gesellschaft schafft. Das haben Stalin und Mao sehr gut praktiziert: Jeder war gleich arm. Das ist natürlich kein Szenario, das besonders attraktiv ist für die meisten Leute. In dynamischeren Marktwirtschaften ergibt sich fast unausweichlich, dass einige Leute besser positioniert sind zu profitieren und dass gleichzeitig alle einen Gewinn daraus ziehen können. Die Frage ist nicht, ob es in diesem Zusammenhang überhaupt keine Ungleichheit geben sollte, sondern wie man die Ungleichheit reguliert, vor allem politisch: Welche Maßnahmen man treffen kann, Ungleichheit im Zaum zu halten, ohne Marktwirtschaft abzuwürgen. Das ist eine große Herausforderung.

"Heute leben wir in einer globalisierten Welt, alles ist weltweit vernetzt."
Foto: apa / neubauer

STANDARD: Sie halten Politikern, die Ungleichheit bekämpfen wollen, vor, die Geschichte auszublenden, weil sie historisch im besten Fall nur stabilisiert werden konnte.

Scheidel: Politiker und Wissenschafter blicken in der Regel auf Dinge, die in der Vergangenheit funktioniert haben, im Regelfall in der Nachkriegszeit: Sie ziehen höhere Steuern heran, mehr Umverteilung, Erbschaftssteuern und sagen, das ging einher mit geringerer Ungleichheit. Das stimmt zwar, aber dabei fehlt der spezielle Kontext, in dem sich diese Reformen durchsetzen ließen. Heute leben wir in einer globalisierten Welt, alles ist weltweit vernetzt.

STANDARD: Wie blicken Sie als Historiker in die Zukunft?

Scheidel: Als Wiener schaue ich immer pessimistisch in die Zukunft, auch wenn ich jetzt in Amerika lebe. Es gibt leider eine ganze Reihe von Faktoren, die eher dafür sprechen, dass sich Ungleichheit in naher Zukunft noch verstärken wird, durch fortschreitenden technologischen Fortschritt, Automatisierung, Computerisierung, Globalisierung, die Alterung, die gerade in Europa und Japan ein großes Problem sein wird. Es gibt immer mehr alte Leute, die nicht mehr im Berufsleben stehen, immer weniger Junge, die dafür zahlen. Der Sozialstaat muss dafür mit viel Geld aufkommen. Wenn jetzige Standards bestehen sollen, gibt es weniger Geld für Umverteilung. Die Antwort ist dann oft Migration. Wenn Integration nicht funktioniert, kann das Ungleichheiten aber verschärfen: Wenn größere Schichten zurückbleiben, kann das Einfluss auf die Einheimischen haben, die den Eindruck haben, ihren Steuern kämen Menschen zugute, die anders sind, ethisch, kulturell, religiös.

STANDARD: Das Phänomen Donald Trump ist erst der Anfang?

Scheidel: Es ist keine Frage, dass hohe Ungleichheit und vor allem der Eindruck hoher Ungleichheit dem Populismus Vorschub leisten. Auch wenn die so gewählten Politiker faktisch nichts radikal dagegen machen können, wie man bei Trump sieht. Es ist sehr pervers, dass gerade seine Reformen wohl eher zu höherer Ungleichheit führen würden.

STANDARD: Könnte sich der Historiker in Ihrem Fall als Prophet herausstellen? Kommen Umbrüche?

Scheidel: Man könnte sagen, heute ist alles anders. Ich glaube aber nicht, dass sich die Welt so drastisch geändert hat. Die Institutionen sitzen dennoch stärker im Sattel, die Menschen sind weniger gewaltbereit. Die Zukunft wird vielleicht weniger friedlich als die Gegenwart, aber nicht instabil genug, um die Ungleichheit signifikant zu reduzieren. (Anna Giulia Fink, Andreas Sator, 31.3.2017)