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Müssen Beihilfebezieher, die in Ungarn Kindersachen einkaufen, dann einen Sozialzoll bezahlen?

Foto: Reuters / Bernadette Szabo

Wien – Alles schon da gewesen: Die Kürzung der Familienbeihilfe für im Ausland lebende Kinder nach dem Leistungsniveau des Wohnorts war schon einmal Bestandteil des Europäischen Sozialrechts: § 73 Abs 2 der VO Nr 1408/71 alte Fassung gewährte Frankreich dieses Privileg. In der Rs Pinna I hat der Europäische Gerichtshof diese Regelung als mit EU-Recht unvereinbar verworfen.

Dazu führt der EuGH aus, dass das EU-Sozialrecht materielle Unterschiede zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit unberührt lasse, und es gestatte des Weiteren nicht, Unterschiede einzuführen. Durch die Bemessung der Leistung nach dem Leistungsniveau des Wohnortes des Kindes werde der Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt, falls Berechtigte für in anderen Mitgliedsstaaten wohnende Kinder geringere Leistungen als für die im zuständigen Staat wohnenden Kinder erhielten.

"Freizügigkeit beeinträchtigen"

Im vom Finanzminister beauftragten Gutachten von Wolfgang Mazal lesen wir von dieser maßgebenden Entscheidung nichts. Dabei hält EuGH ständig fest, dass ein EU-Staat Familienleistungen unter Berufung auf den Aufenthaltsort des Kindes in einem anderen Mitgliedsstaat nicht versagen dürfe: "Eine solche Ablehnung könnte nämlich den EG-Arbeitnehmer davon abhalten, von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, und würde somit die Freizügigkeit beinträchtigen".

Bedeutsam an diesen Entscheidungen ist der Umstand, dass der EuGH eine Indexierung der Familienbeihilfe nach dem Wohnort des Kindes für einen Verstoß gegen Grundfreiheiten hält, also gegen Primärrecht. Auch wenn daher die europäische Koordinierungsverordnung eine derartige Indexierung beinhaltete, wäre sie mit Europarecht unvereinbar.

Richtig, wenn auch sehr kurz erwähnt das Gutachten, dass die Judikatur des EuGH jeden Versuch abgewehrt hat, direkt oder indirekt auf den Wohnsitz eines Anspruchsberechtigten bezugnehmende Leistungsdifferenzierungen zuzulassen. Nur wer diese Passage nicht liest oder verschweigt, kann mit dem Gutachten die Europarechtskonformität der Kürzung der Familienbeihilfe begründen.

Die eigenen Überlegungen des Gutachtens überzeugen nicht. Sein tragendes Argument ist die Überalimentierung von im Ausland wohnenden Kindern durch die österreichische Familienbeihilfe, weil diese an österreichischen Unterhaltsansprüchen und damit an österreichischen Lebenshaltungskosten anknüpft. Die Anknüpfung am österreichischen Unterhaltsrecht ist methodisch unzutreffend, weil dieses auf Personen mit Kindern im Ausland typischerweise nicht anwendbar ist.

Inhaltlich scheitert der Vorschlag am Gleichheitssatz, der am Beschäftigungsort und nicht am Wohnsitz anknüpft. Er verstößt nicht nur gegen die Freizügigkeit, sondern auch gegen weitere europarechtliche Grundfreiheiten, die Dienstleistungs- und die Warenverkehrsfreiheit.

Strafe für Auslandseinkauf

Wird eine Leistung in einem Mitgliedsstaat deswegen gekürzt, weil Sachgüter und Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedsstaat billiger eingekauft werden können, führt dies zur Einführung eines Sozialzolls. Der Dienstleistungen und Sachgüter in einem anderen Mitgliedsstaat nachfragende Unionsbürger wird dafür dadurch bestraft, dass ihm Sozialleistungen aus einem anderen Mitgliedsstaat zumindest teilweise vorenthalten werden. Soll das auch für österreichische Beihilfenbezieher gelten, die Windeln und Babynahrung in Sopron kaufen – und führen wir dann Sozial-Zollkontrollen ein?

Die Einführung eines derartigen Sozialzolls ist mit europarechtlich gewährleisteten Grundfreiheiten nicht vereinbar. Das wurde schon beim Pflegegeld deutlich. Die der Familienbeihilfe vergleichbare Leistung bei Krankheit, das Pflegegeld, ist ungeschmälert zu exportieren.

Dazu wurde Österreich bereits mehrfach verurteilt, obwohl trickreich versucht wurde, die Exportpflicht des Pflegegeldes zu tarnen. Im System der Kürzungsdenke ist bemerkenswert, dass der ungeschmälerte Export des Pflegegeldes nicht infrage gestellt wird. Die Familienbeihilfe will man dagegen indexieren – österreichisches Verständnis von Generationengerechtigkeit.

Eindeutig europarechtswidrig

Insgesamt geht das Gutachten am geltenden ausjudizierten Europarecht völlig vorbei. Wie das Gutachten eine eindeutig europarechtswidrige nationale Regelung legitimieren soll, bleibt gleichfalls im Dunkeln, bestätigt es doch selbst, dass der EuGH "in zahlreichen Facetten jeden Versuch abgewehrt hat, direkt oder indirekt auf den Wohnsitz eines Anspruchsberechtigten bezugnehmende Leistungsdifferenzierungen zuzulassen".

Mit der auf dem Gutachten beruhenden Gesetzesinitiative wird Österreich sicher untergehen, allerdings nicht in Ehren, wenn Herr Orbán die Lehrstunde im Europäischen Sozialrecht erteilt. (Franz Marhold, 3.4.2017)