10.000 Unioner bei der Auswärtspartie in Hannover.

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Wien/Berlin – Ausnahmezustand am Bahnhof von Wolfsburg, die Polizei rückte mit einen Großaufgebot an. Grund des Bahöls: Mehr als 500 Anhänger des FC Union Berlin waren am vergangenen Samstag auf der Rückreise vom Auswärtsmatch in Hannover in der Volkswagenstadt gestrandet, da es dem Anschlusszug an entsprechenden Kapazitäten gebrach. Nach eineinhalb Stunden löste sich die Versammlung mit dem Eintreffen eines ICE Richtung Hauptstadt friedlich auf.

Die Episode illustriert: Union bewegt. 10.000 Fans hatten ihr Team zum Spitzenspiel der zweiten Bundesliga begleitet und sich die gute Laune auch durch das 0:2 gegen 96 nicht vermiesen lassen. In Anlehnung an die Kollegen von der Dortmunder Südtribüne tituliert man sich mittlerweile schon einmal als "Rote Wand". Durch die Niederlage nach eher mäßiger Leistung war zwar die Tabellenführung schon nach einem Spieltag wieder perdu, das Team von Trainer Jens Keller bleibt aber natürlich nichtsdestotrotz massiv ins Aufstiegsrennen verwickelt.

Die zweithöchste deutsche Spielklasse erstrebert sich im Frühjahr 2017 das Prädikat Musterbeispiel an Spannung. Mit dem VfB Stuttgart, Eintracht Braunschweig, Union (alle 50 Punkte) sowie Hannover (49) liegen an der Tabellenspitze vier Klubs Nase an Nase. Wer diese am Ende vorn haben wird, scheint völlig offen. Zwei Direkttickets Richtung Bundesliga gelangen zur Verteilung, der Drittplatzierte kann es über den Umweg Relegation ebenfalls noch in die Beletage schaffen.

Doch was ist das für ein Verein, der dem Berliner Stadtteil Köpenick 111 Jahre nach dem Auftritt des mittlerweile sprichwörtlich gewordenen Hauptmanns wieder ordentlich öffentliches Aufsehen verschafft? Gegründet wurde er 1906, in ebenjenem Jahr, in dem sich auch die berühmte Köpenickiade ereignet hatte, als FC Olympia Oberschöneweide. Größter Erfolg vor dem Krieg war die deutsche Vizemeisterschaft 1923 nach einem 0:3 im Endspiel gegen den Hamburger SV.

Klein gehalten

Nach 1945 verortete die Weltenlage den Klub in der sowjetischen Besatzungszone, aus der sich später die DDR entwickeln sollte. Dort konnte Oberschöneweide, das seit 1966 als Union Berlin firmierte, nicht wirklich reüssieren. Das hatte einerseits damit zu tun, dass sich 1950 die erste Mannschaft beinahe in ihrer Gesamtheit in den Westen absentiert hatte. Später dann ließ Erich Mielke, ab 1957 amtierender Minister für Staatssicherheit, neben seinem geliebten BFC Dynamo niemanden aufkommen. Immerhin: 1968 gewann Union den nach der Freien Deutschen Gewerkschaft benamsten FDGB-Pokal.

Regelmäßig stiegen die Berliner in die DDR-Oberliga auf und wieder ab – zum sechsten und letzten Mal im Wendejahr 1989. Der Verein verpasste dadurch bei der folgenden ballesterischen Wiedervereinigung einen Platz in den gesamtdeutschen Bundesligen, was erneut einen Aderlass zur Folge hatte. Die besten Kaderkräfte wanderten in lukrativere Regionen ab. Ab diesem Zeitpunkt kämpfte Union einen quasi ununterbrochenen finanziellen Überlebenskampf, in dem die Pleite mehrfach nur haarscharf vermieden werden konnte. Mitten hinein platzte das Wunder von 2001, als Union als Regionalligist ins Endspiel des DFB-Pokals durchstieß. Da Endspielgegner und -sieger Schalke 04 in der Champions League spielberechtigt war, qualifizierte sich Berlin trotz der 0:2-Niederlage als erster deutscher Drittligist für den Uefa-Cup.

Erst unter der Ägide von Langzeitpräsident Dirk Zingler (seit 2004) gelang eine stetige Konsolidierung und endlich auch die sportliche Trendwende. Der 52-jährige Unternehmer, erst vor kurzem vom Aufsichtsrat für eine weitere Amtszeit bis 2021 bestätigt, hat die Metamorphose vom Fan zum Macher erfolgreich vollzogen. Statt mit existenziellen Bedrohungen wie zu Beginn seiner Ära darf sich Zingler nun mit den Herausforderungen des Erfolgs befassen.

Klub und Anhang: Eine Symbiose

Die schweren Jahre hatten aber auch einen positiven Nebeneffekt: Verein und Anhang verschmolzen zu einer verschworenen Einheit. Bei Not am Mann war die Solidarität nicht weit. Als 2004 die Lizenzerteilung am seidenen Faden gehangen war, startete man die hohe Wellen schlagende Aktion "Bluten für Union". Die Sympathisanten gaben ihren Lebenssaft, die Aufwandsentschädigung floss an den Klub. Der damalige Bürgermeister Klaus Wowereit beließ es übrigens beim Kauf eines Spendershirts. Beim glücklich mit dem Aufstieg in die 2. Bundesliga zusammenfallenden Ausbau des Stadions An der Alten Försterei packten mehr als 2.000 Mann anno 2009 über ein Jahr lang für lau mit an.

Union ist jedenfalls ein ganz spezielles Biotop. Von den Anfängen her proletarisch geprägt, rekrutierte sich die "Elf der Schlosserjungs" aus der Arbeiterschaft der metallverarbeitenden Industrie in Oberschöneweide. Damals war die Klubfarbe auch noch ein an der traditionellen Arbeiterpanier orientiertes Blau. Die Selbstbezeichnung als "Eiserne" geht ebenfalls auf diese Zeit zurück. In DDR-Zeiten entwickelte sich in Abgrenzung zum linientreuen Rivalen Dynamo eine mit Renitenz und Aufbegehren sympathisierende Gegenkultur. So provozierte der Berliner Anhang gerne einmal mit einem mit Gusto geschmetterten "Die Mauer muss weg!", sobald sich die gegnerische Elf vor Freistößen zugunsten Unions anschickte, ihr Verrammelungswerk zu beginnen. Heutzutage wird in der Hausordnung des Klubs, der sich sichtbar gegen rechts positioniert, jedermann und jederfrau das Recht auf Nichtdiskriminierung zugesichert.

Ösi-Quartett mischt mit

In seinem mittlerweile seit beinahe zehn Jahre ununterbrochenen Zweitligadasein hatte sich Union als gesicherter Mittelständler etabliert, ehe unter dem seit Sommer 2016 zum Chef beförderten Fußballlehrer Keller die Metamorphose zum Spitzenteam begann. Die Alte Försterei, bereits seit 1920 Heimstatt und in der laufenden Saison mit einem Zuschauerschnitt von 20.676 so gut wie immer ausverkauft, mauserte sich zur Festung: Von bisher 13 Heimspielen wurden neun gewonnen, nur eines ging verloren. Am Mittwoch soll gegen Nachzügler Aue der zehnte Sieg folgen. Gelingt der Aufstieg tatsächlich, müsste das bisher schon größte reine Fußballstadion Berlins erneut erweitert werden.

Zwar will Keller von (der natürlich trotzdem bereits unaufhaltbar ausgebrochenen) Euphorie nichts wissen, sagte am Wochenende im ZDF aber auch: "Jeder Trainer, gegen den wir jetzt gespielt haben, hat gesagt: Das ist die stärkste Mannschaft der zweiten Liga derzeit, und genau das waren und das sind wir auch." Vier Österreicher spielen neben Weltmeisterbruder Felix Kroos in seinem Kader ihre Rollen: Stammkraft Christopher Trimmel eine sehr tragende, Michael Gspurning, Emanuel Pogatetz und Philipp Hosiner (bisher drei Tore) eher sporadische. Trimmel, der rechte Verteidiger, absolvierte 24 von bisher 26 Partien über die volle Distanz. Die wenigen Fehlminuten des 30-jährigen Ex-Rapidlers sind einer Schulterverletzung geschuldet.

Manch einen verunsichert die unerwartete Schicksalswende bei den Eisernen. Was, wenn die immer noch familiäre Union im großen Fußballgeschäft ihre Seele verspielt? Präsident Zingler, der auch weiterhin ehrenamtlich werkeln wird, beruhigt: "Wir bleiben wir." (Michael Robausch, 4.4.2017)