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Antiterrorübung in Kirgisistan 2013. Russland versucht schon lange, die Sicherheitszusammenarbeit auszubauen, und argumentiert dabei mit der Terrorgefahr.

Foto: APA / EPA / Igor Kovalenko

STANDARD: Als Sie zuletzt immer wieder hörten, dass islamistische Terroristen aus den zentralasiatischen Ländern stammen – waren Sie überrascht?

Lemon: Ja, eigentlich schon. Vor allem aus Tadschikistan und Kirgisistan sind relativ wenige Leute zum Kämpfen nach Syrien und in den Irak gezogen. Und sie haben auch nicht viel Interesse daran gezeigt, zurückzukehren – obwohl die Regimes in der Region ziemlich lautstark davor gewarnt haben. Aber es stimmt, dass einige nun bei Anschlägen Führungsrollen innehatten.

STANDARD: Halten Sie die geschätzte Zahl von 2.000 bis 4.000 Zentralasiaten von Stand Ende 2015 für plausibel?

Lemon: Ich glaube, dass die Zahlen plausibel sind, sich aber seit der Veröffentlichung vor einem Jahr etwas erhöht haben. Ich würde von 3.000 bis 5.000 ausgehen – inklusiver aller Rückkehrer und Getöteten. Im Verhältnis zur Bevölkerung von 70 Millionen in Zentralasien sind das keine sehr hohen Zahlen. Aber natürlich reicht auch eine kleine Zahl, um Zerstörungen anzurichten.

STANDARD: Vermuten Sie, dass die Radikalisierung zu Hause stattgefunden hat?

Lemon: Ich vermute, die große Mehrheit der Rekrutierungen zu Gruppen wie dem "Islamischen Staat" oder al-Nusra hat in Russland stattgefunden. Usbekistan und Tadschikistan zählen zu den weltweiten Spitzenreitern, was Arbeitsmigration betrifft. Mehr als eine Million Bürger beider Staaten leben in Russland. Das sind meistens junge Männer, die weit weg von zu Hause leben, oft mit niedrigen Löhnen. Und das macht sie für Rekrutierungsversuche zu relativ leichten Zielen. Auch der Verdächtige vom Anschlag in St. Petersburg scheint in diese Kategorie zu fallen. Das spielt auch in Rekrutierungsvideos eine Rolle. In denen geht es meist stark um die Gastarbeiter-Erfahrung, das Leben unter miesen Wohnbedingungen und um schlechte Behandlung.

STANDARD: Es gibt aber auch einheimische radikale Bewegungen.

Lemon: Die gibt es. Die Islamische Bewegung Usbekistans wurde seit den 1990ern als die größte Gruppe gesehen, die aus Zentralasien stammt. Aber in den vergangenen Jahren ging es vor allem um Kämpfer aus Syrien und dem Irak. Und da waren der "Islamische Staat" und al-Nusra die attraktivsten Organisationen für die Bürger zentralasiatischer Staaten.

STANDARD: Sind die Regierungen auf die Rückkehrer vorbereitet?

Lemon: Die Regierung von Tadschikistan hat Rückkehrern eine Amnestie versprochen, wenn sie etwa an Touren teilnehmen und Schüler über die hässliche Realität in Syrien und dem Irak aufklären. Es gibt also eine Art Mechanismus, um vielleicht einige der freiwilligen Rückkehrer zu integrieren. Aber was jene betrifft, die zurückkehren, um dann zu Hause Anschläge auszuführen: Dafür gibt es in der Region nur eine sehr begrenzte Infrastruktur.

STANDARD: Den zentralasiatischen Staaten wurde immer wieder vorgeworfen, dass sie die Terrorbedrohung als Vorwand für eine härtere Hand gegen die Opposition verwenden.

Lemon: Schon in der UdSSR haben die Staaten Wahhabismus und den radikalen Islam als eine Art Vorwand benützt, um ihre eigene autoritäre Regierung zu legitimieren. Sie brandmarkten dann verschiedene Oppositionsgruppen als Radikale, auch wenn diese es sicher nicht immer waren. Heute ist es so, dass die meisten Zentralasiaten zwar Muslime sind, aber mit einer sehr säkularen Weltsicht leben. Staaten wie Tadschikistan erlassen Gesetze gegen den Hijab und gegen Bärte.

STANDARD: Es heißt auch, die Religionsauslegung sei in den vergangenen Jahren konservativer geworden.

Lemon: Das ist sicher wahr. Und das Vorgehen der Regierung dagegen hat viele Leute irritiert. Das sind nicht immer politische Menschen, in vielen Fällen geht es um persönliche Spiritualität. Die meisten Leute, die nach Syrien und in den Irak gegangen sind, waren hingegen nicht besonders religiös oder gar formell religiös gebildet, bevor sie sich den Radikalen anschlossen.

STANDARD: Russland versucht seit Jahren mit dem Argument der Radikalisierung die Sicherheitszusammenarbeit auszubauen. Wird das nun zunehmen?

Lemon: Russland war sicher das Land, das am stärksten Sorge ausgedrückt hat. Die alarmistischsten Berichte über Zentralasien kamen von russischen Medien und russischen Experten. Und die Regierung hat ein offensichtliches Interesse. Russland nutzt die Bedrohung schon lange auch als Argument dafür. (Manuel Escher, 6.4.2017)