Im Blogbeitrag "Österreich 1989: Der Staat als Komplize von Mördern" ging es um das Verhalten der österreichischen Behörden nach den – von der Islamischen Republik Iran in Auftrag gegebenen – Kurdenmorden im Juli 1989 in Wien. Die Mörder durften Österreich unbehelligt verlassen, einer von ihnen wurde gar in Polizeibegleitung zum Flughafen Schwechat gefahren. "Österreich", so das Resümee des grünen Abgeordneten Peter Pilz, der sich viele Jahre um die Aufdeckung und gerichtliche Ahndung der Morde bemühte, sei "ein Rechtsstaat mit Vorbehalt".

Drei Jahre später, am 17. September 1992, folgte der nächste tödliche Schlag gegen die nach Autonomie ringenden iranischen Kurden: die Ermordung dreier Kurdenführer und eines iranischen Oppositionspolitikers im Berliner Restaurant Mykonos.

Kriminalroman einer Lyrikerin

Das Mykonos-Attentat ist der Stoff eines der außergewöhnlichsten Werke der jüngeren US-amerikanischen Literatur: "Assassins of the Turquoise Palace" (Die Meuchelmörder vom Türkispalast) von Roya Hakakian, ein Kriminalroman, der keiner ist, verfasst von einer Romanautorin, die keine ist – sondern Lyrikerin. Von einem Kriminalroman, den eine Lyrikerin verfasst hat, mag man alles Mögliche erwarten, außer Spannung. Ein echter Krimi ist "Assassins of the Turquoise Palace", wie gesagt, aber nicht, eigentlich auch kein Roman, sondern eine penibel recherchierte Dokumentation in der Gestalt eines Romans – und das wohl spannendste Buch, das ich je in der Hand hatte.

Im letzten Blogbeitrag war die Rede von meiner Überraschung, als ich in "Assassins of the Turquoise Palace" Parvis begegnete, einem neu gewonnenen Freund, den ich kurz zuvor kennengelernt hatte – auf derselben Tagung, auf der ich erstmals der Autorin Roya Hakakian begegnet war, aber unabhängig von ihr und ohne zu ahnen, dass auch er mit Mykonos zu tun haben könnte.

Parvis Dastmalchi, so der volle Name meines Freundes, war mir, lange bevor ich ihn auf jener Tagung kennenlernte, ein Begriff. Er ist ein brillanter, im Iran wie in der iranischen Diaspora bekannter politischer Theoretiker und Aktivist. 2011 belief sich die Zahl seiner Publikationen auf 25. 2004 erschien seine Übersetzung ausgewählter Werke Karl Poppers im Iran und wurde in weiterer Folge mehrmals aufgelegt.

Missverständnis mit Absicht

Im September 1992 waren der Vorsitzende der "Demokratischen Partei der Kurden Irans", Sadegh Scharafkandi, und zwei andere iranische Kurdenführer als Gäste einer Tagung der Sozialistischen Internationale zu Besuch in Berlin. Am Abend des 17. September war im Restaurant Mykonos (einem zuvor griechischen, später von einem Iraner übernommenen und danach persischen Restaurant in Berlin-Wilmersdorf) ein Treffen Scharafkandis mit iranischen Oppositionellen geplant. Außer den drei kurdischen Politikern, Noori Dehkordi, einem mit den Kurden sympathisierenden iranischen Oppositionellen und Initiator des Treffens, der ukrainischen Kellnerin, einem deutschen Stammgast und dem Wirt befand sich aber an jenem Abend des 17. September zunächst niemand im Lokal. Bald wurde klar: Der Besitzer des Restaurants hatte einen falschen Termin in Umlauf gebracht.

Was ein Missverständnis zu sein schien, war vermutlich Absicht. Zwar wurde er Jahre später mangels gerichtstauglicher Beweise freigesprochen – vieles spricht aber dafür, dass der Wirt mit den Mördern kooperiert und den Eingeladenen einen falschen Termin mitgeteilt hatte, um die Zahl der Gäste zum Zeitpunkt des Attentats zu reduzieren und so den Mördern das Handwerk zu erleichtern.

Verzweifelt, und verärgert über die vermeintliche Dummheit des Wirtes, rief Dehkordi seinen engsten politischen Weggefährten an, auch er hatte zu den Geladenen gehört, denen ein falscher Termin mitgeteilt worden war – sein Name: Parvis Dastmalchi.

"Möchte der Doktor noch ein Bier?"

Als es läutete, wollte Parvis, versunken in der Lektüre des Manuskripts seines ersten Buches, nicht drangehen. Aber das Klingeln nahm kein Ende – und als er doch abhob, brachte er es nicht übers Herz, seinen alten Freund Dehkordi, der ihn anflehte, alles liegen und stehen zu lassen und sofort ins Mykonos zu kommen, zu enttäuschen. Er machte sich auf den Weg.

Am späten Abend wurde sechs Iranern im hinteren Raum des Mykonos das Essen serviert. Zu den drei Kurdenführern und Noori waren Parvis und ein im Iran populärer, im Berliner Exil lebender Ringer gestoßen. Als kurz vor elf zwei dunkelhaarige Männer das Lokal betraten, näherte sich der Wirt seinen Gästen, "zeigte auf den Ehrengast und fragte: 'Möchte der Doktor noch ein Bier?'"¹ Der von seinen Freunden liebevoll "Doktor" genannte Scharafkandi, Vorsitzender der Demokratischen Partei der Kurden Irans und promovierter Chemiker, "ignorierte den Wirt – und erblasste"². Sein Blick fixierte die beiden gezielt auf ihn zukommenden Fremden.

"So kündigte sich an jenem Abend der Tod an. Formlos, eine erblassende Röte."³ Parvis, der dem "Doktor" gegenübersaß, "fühlte jemanden neben sich stehen. Vom Augenwinkel aus glitt sein Blick an zwei stämmigen Beinen [...] und einem dicken Rumpf entlang, hinauf zu einem Paar schwarzer Augen, verbundenen Augenbrauen und einem spitzen Haaransatz ... und das Gesicht? War bloß teilweise sichtbar."⁴ Alarmiert durch die Vermummung wirft sich Parvis reflexartig zurück, um unter einem Tisch Schutz zu suchen.

"Eine dröhnende Stimme fluchte auf Persisch. Dann eine Reihe nicht endenwollender Explosionen [...] Dem Trommelfeuer folgte eine lähmende Stille [...] Parvis wagte einen Blick auf seine Umgebung, sah einen anderen Schützen drei weitere Schüsse auf den 'Doktor' abfeuern – bei jedem Schuss zuckte sein Ellbogen zurück. Er schloss die Augen, überzeugt, dass der in schwarzes Leder gekleidete Ellbogen sich ihn als nächsten vorknöpfen würde."⁵

Aber in diesem Moment witterten die Mörder eine Gefahr – und rannten aus dem Lokal.

Die Wahrheit des traumatischen Geschehens

In meiner nervenärztlichen Arbeit mit schwer traumatisierten Kriegs- und Folteropfern machte ich eine überraschende Erfahrung: Für Traumatisierte ist die Anerkennung der Wahrheit des traumatischen Geschehens häufig heilsamer als jede medikamentöse oder psychotherapeutische Behandlung.

Nach Mykonos schien Parvis' Leben einem einzigen Ziel gewidmet zu sein: die Wahrheit über die Morde an das Licht der Öffentlichkeit zu bringen und die gerichtliche Anerkennung dieser Wahrheit zu befördern – einer Wahrheit, die jedem mit der Islamischen Republik auch nur oberflächlich Vertrauten bekannt war: dass die drei Kurden und ihr Sympathisant im Auftrag Teherans ermordet worden waren.

In seinem "Kampf um die Anerkennung der Wahrheit" war es Parvis aber nicht bloß um die Bewältigung eines individuellen, sondern eines gesellschaftlichen Traumas zu tun: des Traumas einer Gesellschaft, die 1979 von Emanzipation und Freiheit geträumt, aber ein System hervorgebracht hatte, das Mord als legitimes, ja, heiliges Mittel der Politik betrachtet.

Zurück zu Mykonos: Schon im Oktober 1992 wurden zwei libanesische Mitglieder des vierköpfigen Mordkommandos (Teheran rekrutiert seine Terroristen häufig aus den Reihen der libanesischen Hisbollah-Miliz) und dessen Koordinator, ein iranischer Agent, verhaftet. Alles deutete auf einen Mordauftrag aus Teheran. Davon, dass der Iran hinter dem Blutbad stand, wollten aber die deutschen Behörden, die "rivalisierende oppositionelle Gruppen" beziehungsweise die PKK verdächtigten, nichts wissen. Aus denselben "guten Gründen", die Österreich 1989 veranlasst hatten, mit dem Staatsterrorismus made in Iran zu kooperieren: ausgezeichnete Wirtschaftsbeziehungen und die Angst vor weiterem Terror.

Ein verärgerter Polizeipräsident

Im "Kampf um die Anerkennung der Wahrheit", den Parvis und seine iranischen und deutschen Verbündeten führten, war es unter anderem wichtig, den Druck der öffentlichen Meinung auf die deutschen Behörden nicht verebben zu lassen. Als ihn ein Fernsehjournalist auf der Suche nach Bildern der drei verhafteten Tatverdächtigen kontaktierte – Bilder, welche die Polizei unter Verschluss hielt –, hatte Parvis eine Idee.

Die Polizei hatte ihn wieder einmal als Zeugen vorgeladen, und von einem anderen Mykonos-Überlebenden, jenem Ringer, wusste er, dass man ihm zwecks Täteridentifizierung mehrere Alben mit über hundert Bildern vorlegen wollte, darunter ein Bild mit den drei Tatverdächtigen. Parvis kontaktierte die Polizei und bat um Verständnis, dass er sich wegen der polizeilichen Vorladung nicht schon wieder freinehmen könne – er würde es riskieren, seine Stelle als Sozialarbeiter beim Roten Kreuz zu verlieren. Vielleicht könnten die Beamten so nett sein und ihn in seinem Büro aufsuchen?

Die Beamten waren so nett, fanden sich am selben Nachmittag in Parvis’ Büro ein und legten ihm mehrere Alben vor. Im ersten konnte er niemanden erkennen, im zweiten fand er das Bild: der iranische Agent in der Mitte, flankiert von den beiden libanesischen Mitgliedern des Terrorkommandos. Sobald er das Objekt seines Begehrens gefunden hatte, drückte Parvis die Hand gegen die Stirn und schloss die Augen. Das Ansehen der Bilder habe ihn belastet, es sei ihm, als würde er die traumatischen Szenen wieder erleben. Er brauche eine Pause. Die verständnisvollen Beamten begleiteten Parvis in die Küche, wo er sich und ihnen Kaffee machte. Zeit genug für Parvis' Sekretärin, die er zuvor instruiert hatte, die aufgeschlagene Albumseite zu kopieren. 

Iraner demonstrieren 1997 in Berlin bei der Urteilsverkündigung des Mykonos-Attentat.
Foto: Reuters/Arnd Wiegmann

Wenige Tage später zeigte die "Berliner Abendschau" das Bild der drei Terroristen, unterlegt mit dem Kommentar, die Hinweise auf Teheran als den Auftraggeber der Morde würden sich verdichten.

Dem verwunderten und verärgerten Polizeipräsidenten gegenüber, der ihn in sein Büro zitiert hatte (als Österreicher fühlt man sich an den Präsidenten Pilch aus "Kottan" erinnert) und wissen wollte, wie er in den Besitz des Fotos gekommen sei, gab sich Parvis zunächst ahnungslos. Aber, meinte er beim Abschied, wenn es der Herr Präsident unbedingt wissen wolle, könne er ihm schon sagen, wer dem Sender das Bild zugespielt habe. "Wer?", fragte der Präsident. "Sie", sagte Parvis, "ich bin schließlich das Opfer und Sie das BKA [...] Die Öffentlichkeit wird sich schon einen Reim darauf machen, warum Sie es getan haben. Rivalität, Korruption, 'Whistleblowing' – der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt."⁶

Befreiungsschlag

Als im Mai 1993, acht Monate nach dem Anschlag, Teherans Verantwortung immer offenkundiger wurde, die Bundesanwaltschaft aber noch immer die PKK beziehungsweise "rivalisierende oppositionelle Gruppen" verdächtigte, landete Parvis seinen nächsten Coup.

Ein Whistleblower im Bundeskriminalamt hatte jenem TV-Journalisten, der Parvis das begehrte Foto der drei Terroristen verdankte, ein Dokument zugespielt, wonach die Waffen, welche die Polizei am Tatort gefunden hatte, in den 70er-Jahren in Spanien produziert und unter dem Schah an den Iran verkauft worden waren. Nach der Revolution waren sie in den Besitz der neuen Machthaber gelangt. Der Journalist zögerte, das heikle Dokument selbst zu veröffentlichen, ließ aber Parvis die Seriennummern der Waffen zukommen.

Es gibt Situationen, in denen ausgerechnet die Lüge der Wahrheit zu ihrem Recht verhilft – oder, frei nach Lacan: Manchmal hat die Wahrheit die Struktur einer Fiktion. Aus Sorge, die deutschen Behörden könnten, so wie es die österreichischen getan hatten, die Tatverdächtigen einfach freilassen, entschloss sich Parvis zu einem außergewöhnlichen Schritt. Er übermittelte einem Bild-Journalisten die Seriennummern der Waffen – und verknüpfte diese richtige Information mit einer falschen: Deutschland, behauptete er, habe jene Waffen an den Iran geliefert. Tags darauf titelte Bild: "Der Berliner Mykonos-Skandal –  Die Mordwaffe kam von der Bundesregierung".

Nun musste die Bundesanwaltschaft Farbe bekennen. In ihrer ersten öffentlichen Stellungnahme seit den Morden bestätigte sie, dass die am Tatort gefundenen Waffen 1972 an den Iran verkauft worden waren – nicht allerdings von Deutschland, sondern von Spanien. Der Bann war gebrochen. Die Bundesanwaltschaft hatte den Iran mit dem Mykonos-Attentat in Verbindung gebracht. Eine Woche später wurde Anklage erhoben. Es sollte sich herausstellen, dass die Bundesanwaltschaft, deren Arbeit in der Causa Mykonos von Anfang an von oben blockiert worden war, die von Parvis lancierte Falschmeldung zu einem Befreiungsschlag genutzt hatte.

Vier Jahre sollten bis zur Verkündung des Urteils am 10. April 1997 vergehen. Doch dieses Urteil hatte es in sich. Denn verurteilt wurden nicht bloß die beiden verhafteten libanesischen Terroristen und der iranische Koordinator der Aktion – auch die Drahtzieher in Teheran wurden namentlich benannt:

  • Ali Khamenei, der "Geistliche Führer" der Islamischen Republik
  • Ex-Präsident Haschemi Rafsanjani
  • Ali Fallahian, Geheimdienstminister
  • Ali Akbar Velayati, Außenminister

In diesem Gericht, so der Tenor der Medien, wurde Geschichte geschrieben. Erstmals in der deutschen Geschichte hatte ein Gericht amtierende Politiker eines fremden Landes des Mordes für schuldig befunden.

Gewiss, Parvis war nicht der einzige Held dieser ungewöhnlichen Geschichte. Mutige deutsche Juristen, allen voran Bundesanwalt Bruno Jost und der Vorsitzende Richter Frithjof Kubsch, zeigten, dass die Unabhängigkeit der Justiz – auch in entwickelten Demokratien ein stets gefährdetes Gut – sich mitunter auch gegen die "Staatsräson" durchzusetzen vermag. Gewiss, Parvis war nicht der einzige Held – doch ohne seine Entschlossenheit, seinen Mut und seine odysseische Klugheit hätte sie wohl anders geendet. (Sama Maani, 6.4.2017)

Ende der Serie.

"Wanted".
Foto: Reuters

PS: Dies ist ein Aufruf an deutschsprachige Verlage. Im September jährt sich das Mykonos-Attentat zum 25. Mal. Eine gute Gelegenheit, dieses wichtige Buch endlich ins Deutsche zu übersetzen.

¹ Roya Hakakian, Assassins of the Torquoise Palace, New York 2011, S. 28 (diese und die folgenden Passagen des Buches wurden von mir frei übersetzt)
² Ebd. S. 29
³ Ebd.
⁴ Ebd.
⁵ Ebd. S. 29 f
⁶ Ebd. S. 111

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