London/Wien – Seit fast 100 Jahren will China die Todesstrafe aufgeben. Zumindest wenn es nach offiziellen Beteuerungen der kommunistischen Partei geht. So recht gelingen will das offenbar nicht, denn noch immer werden nach Schätzungen von Amnesty International mehr Menschen in China hingerichtet als in allen anderen Nationen der Welt zusammen. Tausende Menschen sollen es auch im Jahr 2016 gewesen sein, wie es im jährlichen Bericht der Menschenrechtsorganisation zur Lage der Todesstrafe steht, der heute, Dienstag, präsentiert wird. Offizielle Zahlen gibt es nicht. Die chinesische Führung hält sie unter Verschluss.
Dass die Schätzungen nahe an der Realität sein dürften, legt unter anderem die Aussage eines emeritierten Professors der Chinesischen Universität für Politikwissenschaften und Recht in Peking nahe. Laut Chen Guangzhong werden nicht mehr über 10.000 Menschen, sondern nur eine vierstellige Zahl von Verurteilten im Jahr hingerichtet. Das Zitat ist im Vorjahr in einer chinesischen Zeitung erschienen und nie der Zensur zum Opfer gefallen.
Scheinbare Transparenz
Hinrichtungen sind in China noch immer Staatsgeheimnis, obwohl sich 2014 die Führung mit ihrer Transparenz in Sachen Gerichtsurteile brüstete. Rund 20 Millionen Gerichtsurteile sollen auf der Onlinedatenbank China Judgements Online abrufbar sein – doch nur rund ein Zehntel der Hinrichtungen, wie eine Überprüfung von Amnesty zeigte. Dabei wurden chinesische Medienberichte mit der Datenbank abgeglichen. Von 931 Exekutionen, über die zwischen 2014 und 2016 berichtet wurde, fanden sich nur 85 in der Datenbank wieder.
Insgesamt wurden im vergangenen Jahr weltweit mindestens 3.117 Personen zum Tod verurteilt – was einem Allzeithoch entspricht – und 1.032 Menschen hingerichtet. Das bedeutet einen Rückgang von 37 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. "Das liegt vor allem daran, dass im Iran und in Pakistan weniger Menschen hingerichtet worden sind", sagt Chiara Sangiorgio, Expertin für die Todesstrafe bei Amnesty International, zum STANDARD. Insgesamt waren ohne China vier Nationen für 87 Prozent aller Hinrichtungen weltweit verantwortlich: der Iran, Saudi-Arabien, der Irak und Pakistan. Die USA waren zum ersten Mal seit zehn Jahren nicht mehr unter den fünf Nationen mit den meisten Exekutionen.
Vietnams hohe Zahlen
"Schockierend war, dass wir jahrelang unterschätzt haben, wie viele Menschen in Vietnam hingerichtet werden", sagt Sangiorgio. Im Februar 2017 veröffentlichten vietnamesische Medien einen Bericht, wonach zwischen August 2013 und Juni 2016 429 Menschen hingerichtet wurden. Eine jährliche Statistik gibt es nicht.
Bis dato waren Menschenrechtler davon ausgegangen, dass in Vietnam weniger als hundert Menschen pro Jahr exekutiert werden. Das südostasiatische Land wäre hinter China und dem Iran der drittgrößte Exekutor. Gesicherte Zahlen gibt es aber nach wie vor nicht. Genauso wenig konnte Amnesty genaue Zahlen aus Nordkorea, Syrien oder dem Jemen erhalten.
Sorge um die Türkei
Gesichert ist für Amnesty, dass es weltweit seit Jahren einen Trend gegen die Todesstrafe gibt. Nur noch in 23 Ländern der Welt wurden im vergangenen Jahr Todesurteile vollstreckt. So erklärten Nauru und Benin die Exekutionen für illegal. Auch im Tschad wurde der Schritt in Richtung Abschaffung gesetzt. Im Dezember wurde im Parlament ein neues Strafgesetzbuch verabschiedet, das die Todesstrafe nur noch bei Terrorismus vorsieht. Und in Guatemala wurde die verpflichtende Todesstrafe bei Mord unter gewissen schwerwiegenden Umständen als verfassungswidrig erklärt.
"Gleichzeitig haben wir aber natürlich Angst, dass sich dieser positive Trend wieder umdreht", sagt Sangiorgio. – vor allem im Hinblick auf die Philippinen und die Türkei, wo die Todesstrafe wieder eingeführt werden soll. "Sorge bereitet uns vor allem, dass die Todesstrafe als rhetorisches Mittel eingesetzt wird", sagt die Amnesty-Expertin. "Obwohl man weiß, dass Hinrichtungen nicht mehr Sicherheit bringen."
In den Vereinigten Staaten sieht Sangiorgio prinzipiell eine "sehr positive Entwicklung gegen die Todesstrafe". Nur einzelne Bundesstaaten würden dem noch entgegenstehen. Als Beispiel nennt sie etwa Arkansas, das innerhalb von elf Tagen im April sieben Hinrichtungen plant, weil den Behörden das Betäubungsmittel Midazolam mit Ende des Monats abläuft und es aus Europa nicht nachgeliefert wird – oder dass sich Utah darauf vorbereitet, wegen der Lieferschwierigkeiten des Medikaments von der Giftspritze auf Erschießungskommandos umzusteigen. (Bianca Blei, 11.4.2017)