Die Belagerten waren dazu übergegangen, gekochtes Gras und die Scheiden ihrer Schwerter zu essen und aus gemahlenen Knochen Mehl herzustellen [...] Der Mann auf der Festungsmauer hatte sein Schwert über seinen weißen Umhang geschnallt. Um seinen Kopf trug er ein weißes Band – und der Besucher, dem sicheres Geleit zugesichert worden war, um den Mann mit nach Hause zu nehmen, erschrak als er dessen Gesicht sah, das ihm entflammt und unnachgiebig erschien [...] Der Besucher versuchte den Mann zu bewegen, mit ihm nach Hause zurückzukehren. "Komm mit", sagte er, "Dein Sohn, der kleine Rahman, hat Sehnsucht nach Dir." "Sag ihm", sagte der Mann auf der Mauer, "dass mein Herz von der Liebe zum wahren Rahman erfüllt ist [in der islamischen Tradition ist Rahman, der Barmherzige, einer der 99 Namen Gottes]. Und dass diese Liebe keinen Platz für eine andere lässt." "Möge Gott Dir beistehen", sagte der Besucher. "Das hat er schon", sagte der Mann auf der Mauer, "wie sonst hätte ich zu dieser erhabenen Festung gelangen können?"¹

Wir Hedonisten

1848 war die im waldreichen Norden des Irans gelegene Tabarsi-Festung Schauplatz eines blutigen Kampfes zwischen den Regierungstruppen und den Anhängern der messianischen Religion der Babi, deren – aus der Sicht des islamischen Klerus ketzerische – Anhänger an die unmittelbar bevorstehende Wiederkunft des schiitischen Messias glaubten. Der Mann auf der Festungsmauer, der Vater des kleinen Rahman, war einer dieser Gotteskrieger.

Diesem Mann, den wir als Prototyp eines Fanatikers empfinden, begegnen wir Europäer des 21. Jahrhunderts ähnlich, wie wir den Gotteskriegern des Islamischen Staates begegnen: Mit einer Mischung aus Angst, Erstaunen und Abscheu, mitunter auch Faszination – und Neid.

Eines scheint dabei klar zu sein: Dass uns vom Fanatismus dieser Gotteskrieger Welten trennen. Uns, die wir uns als hedonistisch und materialistisch wahrzunehmen gewöhnt sind. Uns, die wir unsere Position dem Glauben gegenüber zwar nicht als ablehnend, aber als entspannt bis distanziert beschreiben würden.

Die Lust des Körpers

Allerdings müsste es uns stutzig machen, dass die Begriffe "materialistisch" und "hedonistisch" in unserer Alltagssprache stets negativ besetzt sind, und wir sollten uns fragen, wie es denn kommt, dass wir, angeblich von Hedonismus und Materialismus Durchdrungene, diesen uns angeblich durchdringenden Materialismus und Hedonismus zugleich ausnahmslos schlecht finden.

"Materialismus" und "Hedonismus" sind Begriffe, die unsere Alltagssprache von der Philosophie übernommen hat – dort allerdings haftete ihnen keineswegs immer der, uns selbstverständlich erscheinende, negative Beigeschmack an.

Als Begründer des philosophischen Hedonismus – hedoné ist das altgriechische Wort für Lust – gilt Aristipp von Kyrene. Der breiten Öffentlichkeit, im Unterschied zu seinem Lehrer Sokrates und seinem Mitschüler Plato so gut wie unbekannt. Auch wenn Christoph Martin Wielands wunderschöner Roman "Aristipp" ihn eine Zeit lang ins Blickfeld der deutschsprachigen Öffentlichkeit zu rücken vermochte, bevor Wieland selbst mehr oder weniger in Vergessenheit geriet.

Ohne starke Verankerung in der Lust, so die Essenz der Ethik, die Aristipp und seinen Schülern, den Kyrenaikern, zugeschrieben wird, kein geglücktes Leben. Wobei Aristipp der Lust des Körpers, die er als "sanfte Bewegung" charakterisiert, vor der rein intellektuellen – in der Sprache der Psychoanalyse: "sublimierten" – Lust, den Vorrang einräumt.

Kastrierte Aufklärung

Historisch – nicht allerdings gedanklich – näher sind uns die Philosophen Denis Diderot und sein Freund Baron Thiry d’Holbach, Vertreter eines aufgeklärten Hedonismus im Paris des 18. Jahrhunderts. Auch sie sind – als Philosophen – in Vergessenheit geraten. Diderot ist uns zwar als Schriftsteller und Enzyklopädist ein Begriff, nicht aber als zentrale Figur einer Aufklärung, die diesen Namen verdient. Dass wir, wenn wir heute "Aufklärung" sagen, an den geistreichen, aber opportunistischen Voltaire oder an den Anti-Aufklärer Rousseau denken, oder auch an Kant, der es als seine Aufgabe sah, "das Wissen auf[zu]heben, um zum Glauben Platz zu bekommen"², nicht aber an die konsequenten, weil radikalen Aufklärer d’Holbach und Diderot, ist das Ergebnis eines ideengeschichtlichen Verdrängungswettbewerbs – mit weitreichenden Folgen für die Gegenwart.

Die Vermutung, dass zwischen dieser, mit Philipp Blom zu sprechen, "Kastration der Aufklärung"³ und dem miserablen Ruf von Materialismus und Hedonismus in der Gegenwartskultur ein Zusammenhang existiert, ist berechtigt.

"Erotik" statt Stolz?

In seinem Bestseller "Zorn und Zeit" beklagt Peter Sloterdijk den Schwund "thymotischer Tugenden" in der Gegenwart. Thymós bezeichnete im antiken Griechenland das körperliche Substrat der Seele, dem Plato die – von Sloterdijk so genannten – "thymotischen Eigenschaften" zuordnete: Stolz, Empörung, Zorn, Tapferkeit, Ehrgefühl. Affekte und Tugenden, denen wir allesamt das Bedürfnis nach Anerkennung zugrunde legen können.

Der Schwund thymotischer Tugenden gehe nun, so Sloterdijk, mit der Dominanz des "erotischen Pols" einher, den er, vereinfacht gesagt, als Streben nach materiellen Gütern definiert, "durch deren Besitz oder Nähe wir uns ergänzt fühlen."⁴.

Hätte das Christentum jahrhundertelang "das gesamte thymotische Feld durch den Vorwurf der superbia [der Hochmut] abzuriegeln", und "Ehre, Ambition, Stolz [...] hinter einer dichten Wand von moralischen Vorschriften"⁵ zu verbergen versucht – erreiche der "aktuelle Konsumismus [...] dieselbe Ausschaltung des Stolzes zugunsten der Erotik ohne altruistische [...] und sonstige vornehme Ausreden, indem er den Menschen ihr Interesse an Würde durch materielle Vergünstigungen"⁶ abkaufe.

Erotik und Materialismus gehören zusammen. Das obige Bild war in der Ausstellung "Nackt" zu sehen.
Foto: epa/Ingo Wagner

Den "Konsumismus" finden wir bei Sloterdijk also am Pol der "Erotik", in enger Nachbarschaft zu Hedonismus und Materialismus, angesiedelt – und unsere Selbsteinschätzung als hedonistisch und materialistisch vom wohl einflussreichsten deutschen Philosophen der Gegenwart vollauf bestätigt.

Von hier aus – von der Rede von Subjekten, deren Hedonismus ihr "Interesse an Würde" ausgelöscht haben soll, ist es nicht weit zu der These, dass unser (angeblicher) Hedonismus auch für das aktuell weit verbreitete Desinteresse an Politik und politischem Engagement verantwortlich sei.

Macht Elend revolutionär?

Tatsächlich ist Politik, die über die entpolitisierte "Postpolitik" des bloßen Verwaltens, "die Kabel verlegt, Bildung vermarktet und öffentliches Eigentum verschleudert", hinausgehen will, ohne leidenschaftliches Engagement, ohne Kampf- und mitunter auch Opferbereitschaft, nicht zu haben. Tugenden, die Sloterdijk allesamt dem "thymotischen Pol" zuordnen würde.

Diese – ausgerechnet von einem konservativen Denker formulierte – These führt uns mitten ins Herz traditioneller linker Debatten über die subjektiven Bedingungen der Revolution: Kann – oder muss – "der Druck der Armut unmittelbar zur Kraft gegen die Unterdrücker"⁷ werden, wie Adorno schreibt? Gibt es, anders gesagt, einen notwendigen Zusammenhang zwischen dem (zunehmendem) Elend der benachteiligten Klassen und "dem Ausbruch der Revolution", wie es die Vertreter der sogenannten Verelendungstheorie einmal behaupteten?

Sloterdijks These liest sich wie eine Bestätigung der traditionellen marxistischen Verelendungstheorie – im Umkehrschluss: Wenn Wohlstand, wie Sloterdijk behauptet, dazu führt, dass die Begünstigten das "Interesse an Würde" und an anderen für den politischen Kampf notwendigen "thymotischen Tugenden" verlieren, dann müsste materielles Elend – im Umkehrschluss – ihr Interesse an thymotischen Tugenden fördern, und sie in letzter Konsequenz zu revolutionären Subjekten machen.

Können "Deformierte" revoltieren?

Aber ist es denn überhaupt sicher, dass materielles Elend "thymotische Tugenden", somit die Bereitschaft, sich politisch, emanzipatorisch oder gar revolutionär zu engagieren fördert?

In seinem oben zitierten Text "Reflexionen zur Klassentheorie" schreibt Adorno, dass "eine Industrie, die ihre Opfer an physisch Verstümmelten, Erkrankten, Deformierten" fordere, auch "das Bewusstsein zu deformieren" drohe, um dann zu fragen, wie jene "Deformierten" "zur [politischen] Aktion fähig sein sollen, welche doch nicht bloß Klugheit, Überblick und Geistesgegenwart, sondern die Fähigkeit zur äußersten Selbstaufopferung"⁸ verlange.

Könnte es also sein, dass materielles Wohlbefinden politisches Interesse und Engagement nicht nur nicht behindert, wie Sloterdijk behauptet, sondern dass materieller Wohlstand – im Gegenteil – die Voraussetzung für das Interesse an "thymotischen Tugenden" und an politischer Aktion bilden könnte? Dass Bereitschaft und Fähigkeit zum politischem Engagement unter den Bedingungen des Elends nicht zunehmen – sondern schwinden? (Sama Maani, 11.4.2017)

Fortsetzung folgt.

¹ frei übersetzt aus Marzieh Gail, Dawn Over Mount Hira
² Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Stuttgart 1966, S. 38
³ Mündliche Mitteilung. Vgl. auch Philipp Bloms ungemein aufschlussreiches Buch Böse Philosophen, München 2011
⁴ Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, Frankfurt 2006, S. 30
⁵ Ebd. S. 31
⁶ Ebd. S. 31 f
⁷ Theodor W. Adorno, Reflexionen zur Klassentheorie. In: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8 , Frankfurt am Main 2003, S. 388
⁸ Ebd. S. 384

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