Die Ski erzeugen bei jedem Schritt über den zugefrorenen Fjord ein charakteristisches Knirschen. Der trockene Schnee dämpft dieses Geräusch des Winters, wenn er lose zwischen festen Wehen liegt; der harte, windverfestigte Schnee oder aufgetürmte Meereishügel geben hingegen einen hellen, metallischen Klang von sich, der an reibende Keramikteile erinnert. Sonst sind keine Geräusche zu hören, außer dem eigenen Atem, vermischt mit schnellem Herzschlag, als wir die Weiten von Liverpool Land durchqueren. Ja, das ist der Herzschlag der Arktis! Ein Wohlgefühl durchströmt den Körper. Wir sind viele Kilometer von den Hundeschlitten entfernt, die sich allein einen Weg durch den hohen Schnee bahnen. Der Himmel ist bleich, die Konturen werden schwächer. Schneefall setzt ein. Was macht einen Winter aus? Woran erkennt man, dass Winter ist? Kann man Winter riechen und schmecken?

"Too much happiness at once. I borrowed words for my song, because I felt like singing. I borrowed words to sing, for all around me was so quiet."

Jörn Riel
Foto: Christoph Ruhsam
Schneeverwehungen erschweren das Fortkommen.
Foto: Christoph Ruhsam
Eisverschiebungen am Storefjord.
Foto: Christoph Ruhsam

Im dichten Schneefall folgen wir den Hundeschlittenspuren durch das strukturlose Weiß. Ich erahne die Ufer des tiefen Fjordes und peile in der Mitte die Mündung des Nebenfjordes an. In der unglaublichen Stille bewegen sich meine Gedanken zwischen Dankbarkeit und Sorge, einem Eisbären unvermutet zu begegnen. Die Sichtweite beträgt wenige Meter, und die beiden Hundegespanne sind von den Dimensionen des Landes verschlungen – keiner der 28 Hunde ist zu sehen oder zu hören, um Eisbären auf Distanz zu halten. Was ist der Mensch in der Weite Nordostgrönlands? Ein atmender Herzschlag.

Schlittenspuren am Storefjord.
Foto: Christoph Ruhsam
Winterliche Verhältnisse verlangen einen warmen Schutz.
Foto: Christian Mastnak
Frostpolygone in Jameson Land.
Foto: Christoph Ruhsam

Winter, richtiger Winter

Trotz des intensiven Schneefalls ist es sehr kalt. Die Stille wird durch einen Nordsturm hörbar, der einem ins Gesicht bläst. Ich habe mir schon bei Sonnenschein und leichtem Bodenwind meine Nasenspitze erfroren – wenige Sekunden eines Windstoßes ohne Gesichtsschutz reichen für eine Nasenspitze, um über Tage zu nässen, bevor die Haut wie nach einem Sonnenbrand braun wird und sich abzuschälen beginnt. Unter derartigen Bedingungen legen selbst Ooqe und Arqalo, unsere Schlittenführer, Schneebrillen mit Atemschutzfunktion an. Dadurch kondensiert die warme Atemluft nicht wie bei uns, wenn sie durch die Gesichtsmaske ins Innere der Brille strömt und sofort zu einer undurchsichtigen Eisschicht an den kalten Gläsern friert. Feine Eis- und Schneekristalle treiben mit hoher Geschwindigkeit über die Schneefläche und reiben sich an allem, was aus dem Schnee herausragt. Die wenigen hervorstehenden, niedrigen Polarweidenstämme werden wie von einem Sandstrahlgebläse entrindet. Die Natur ist unbarmherzig – aber so schön und weit.

Die Witterung entrindet sogar Äste.
Foto: Christoph Ruhsam
In den Gletschertälern von Liverpool Land.
Foto: Christoph Ruhsam
Hundeblick nach kalter Nacht.
Foto: Chrístoph Ruhsam

Schlittenhunde dirigieren

Wir starten mit zwei vollbeladenen Hundeschlitten in Ittoqqortoormiit, der entlegensten Siedlung der Welt. Für die zwölf Reisetage wiegt jeder Schlitten um die 400 Kilogramm und wird von je zwölf Hunden im Fächergespann gezogen. Sie bilden ein gieriges Gespann, das vor Kraft und Bewegungsdrang nur so strotzt. Schwierig ist die Phase des Anschirrens, bei dem unter wolfsähnlichem Geheul heftige Rangkämpfe ausgetragen werden und mit harten Tritten für Ordnung gesorgt wird. Die Hunde sind derart auf das Kommende fokussiert, dass sie die Leinen durch hohe Luftsprünge in alle Richtungen reißen. Nur ein fest verankerter Schlitten hält dem Gezerre stand. Wenn der Anker gelöst wird und durch den Leithund an der Spitze die Richtung vorgegeben wird, preschen die Schlitten wild über Schneewehen und bloße Steinpartien los. Mit ju, juu – hii, hiii – ho, hooo – aaii, aaiii – arui, aruiii – dirigieren Ooqe und Arqalo die Gespanne nach links, rechts oder geradeaus, weisen an zu stoppen oder zu liegen. Laute, die sich in der Stille mit dem Herzschlag der Arktis vermischen.


Arqalo, der Sonnenpeitscher.
Foto: Christoph Ruhsam
Motiviertes Hundeteam.
Foto: Christoph Ruhsam
Zu Fuß bergauf im Schneesturm, um die Hunde zu entlasten.
Foto: Christoph Ruhsam

Eine authentische Inuit-Erfahrung

Wir lernen, uns in eine egalitär geprägte kleine Inuitgesellschaft einzufinden, mit einem hohen Stellenwert von Toleranz, Freiheit, Selbstständigkeit und Selbstverantwortung. Die Schlittenführung und den Schutz vor Eisbären übernehmen Ooqe und Arqalo mit je einem Gewehr an den Schlitten. Die Schlittenroute beziehungsweise unsere Skitouren besprechen wir jeden Abend gemeinsam und stimmen sie mit den örtlichen Möglichkeiten gemäß der Erfahrung der beiden ab.

Der Tagesrhythmus fügt sich harmonisch in die elf Stunden Tag und 13 Stunden Nacht ein. Nach einem heißen Frühstück in der Kälte des Morgens werden die Schlafsäcke samt den dicken Unterlagsmatten in ganzer Länge am Schlitten in einem Übersack verstaut. Darunter liegt unser Gepäck, darüber wärmt ein Moschusochsenfell unsere Sitzgelegenheit. Die Proviantkiste kommt an die Spitze des Schlittens, Ski, Stöcke und das Gewehr werden am Ende stehend vertäut. Kochgeschirr und die Primuskocher hängen an den Schlittengriffen lose herab.

Ein Inuitschlitten beladen mit allem, was man auf einer wochenlangen Tour in der winterlichen Arktis braucht.
Foto: Christoph Ruhsam
Zelt im eisigen Wind.
Foto: Christoph Ruhsam
Die Trillingerne versinken in die polare Nacht.
Foto: Christoph Ruhsam
Winter in Nordostgrönland: Kalkdal.
Foto: Christoph Ruhsam
Liverpool Land vom Hubschrauber aus: Wir wissen noch nicht, dass wir dieses Tal zum Gletscher aufsteigen werden.
Foto: Christoph Ruhsam
Wir erahnen die Nähe der Eisbären, die wegen der Hunde auf Distanz bleiben.
Foto: Christoph Ruhsam

Skitour in unberührten Bergen

Bei harter Schneebahn geht es einige Stunden bis zur ersten Pause in rascher Fahrt durch die extraterrestrisch anmutenden Landschaften von Liverpool Land. Bei tiefem Schnee gehen wir hinter oder vor den Schlitten auf unseren Skiern, um den Hunden die Last zu erleichtern. In den Pausen trinkt man heißes Wasser aus Thermoskannen oder bereitet sich damit eine Suppe im Trinkbecher. Die Hunde liegen neben den Schlitten und fressen Schnee. Futter gibt es nur einmal am Abend. Danach setzen wir unsere Route fort, bis wir eine der einfachen Jagdhütten erreichen oder an einem beliebigen Punkt die Zelte aufstellen. Jeder Platz ist gut.

Harter und pulvriger Schnee wechseln sich über dem Nörrefjord ab.
Foto: Christoph Ruhsam
Die Nacht bricht an: Nörredal mit seinen heißen Quellen.
Foto: Christoph Ruhsam
Schneesturmwanderer über dem Friedhof von Ittoqqortoormiit.
Foto: Christoph Ruhsam
Istorvet in Liverpool Land: Die lokale Eiskappe erinnert an das große Inlandeis Grönlands.
Foto: Christoph Ruhsam

Wir schnallen die Ski an und suchen uns mit leichtem Gepäck einen Aufstieg auf einen der unberührten Berge von Liverpool Land und erschließen uns von oben das Land mit Blicken, die durch die kalte Luft ohne Luftfeuchtigkeit problemlos hunderte Kilometer in die Weite der Landschaften reichen.

Die sehr kalte Luft in Bodennähe wirkt als starke Inversion und beeinflusst die Ausbreitung des Lichts: Wir müssen uns die Augen reiben, um uns zu versichern, dass es die Lichtbrechung hin zu dichteren, weil kalten Luftschichten ist, die die Basis der Berge über den Horizont hebt: Felswände werden zu breiten Bändern gedehnt, und die Spitzen der ohnehin schon beeindruckenden Bergspitzen der Stauning Alper, in 120 Kilometer Entfernung hinter den Weiten des welligen Jameson Land, werden, vertikal überhöht, zu einem Fantasiegebirge verzerrt.

Die kalte, klare Luft verzerrt die Stauning Alper in mehr als 120 Kilometer Entfernung.
Foto: Christoph Ruhsam
Die Kälte in Bodennähe verzerrt die Felshänge von Jameson Land: arktische Fata Morgana.
Foto: Christoph Ruhsam
Die unberührten Weiten des Nörredals: Die unbestiegenen Berge sind bis zu 1.300 Meter hoch.
Foto: Christoph Ruhsam
Grönland ist voller faszinierender Landschaften.
Foto: Christoph Ruhsam

Alles war gut

Die Reinheit der Luft und die Lichtintensität an den vielen wolkenlosen Tagen lassen uns Ästhetik als das Unvergängliche im Vergänglichen erfahren: Schnee und Eis geben der Landschaft für neun Monate eine sich ständig wandelnde Struktur. Die auf klare Formen reduzierte Landschaft mit Schattenwirkungen an Berghängen strahlt so viel Schönheit, Unberührtheit und Bescheidenheit aus, dass wir uns als Menschen in einer uns angemessenen Dimension wiederfinden: Man verschwindet in der Weite des arktischen Winters.

Video zur Expedition.
Pure Landscapes

Alles war gut – ich musste nur vertrauen, dass jeder nächste Moment genauso gut sein würde. Keine bangen Gedanken über das Morgen oder verärgerte Gedanken über das Gestern – unser Ego ist immer unzufrieden und schafft sich selbst Nahrung durch Gedanken des Neids. Diese Erfahrung drängt sich als Korrektiv für die Geisteshaltung einer nach immer mehr und immer höher strebenden Gesellschaft auf. Es gibt nur den gegenwärtigen Moment und die ungeteilte Hingabe an diesen. Der Inuit-Schamane Angaangaq ruft der zivilisierten Welt zu: "Schmelzt das Eis in euren Herzen. Beginnt mit einem Lächeln und Beten, damit unsere Kinder noch viele, viele viele Frühlinge über das Land ziehen sehen."

Polarlichter in Nordostgrönland

Die kalte arktische Luft ermöglicht es, Farben in unglaublicher Pracht zu erleben. Jede wolkenlose Nacht zieht es uns hinaus in die klirrende Schneelandschaft. Mit den Winteroveralls als sechster wärmender Schicht über den fünf Lagen aus wattierten Hosen, Anoraks, Hauben und Thermounterwäsche legen wir uns rücklings auf den Schnee und schauen in die Fülle des Nachthimmels.

Violett ist eine seltene Farbe im Spektrum der Polarlichter.
Foto: Christoph Ruhsam
Mystik über dem Friedhof von Ittoqqortoormiit.
Foto: Christoph Ruhsam
Polarlichter über Grönland.
Foto: Christoph Ruhsam

Sterne über Sterne beleben die Nacht. Die Fülle ist derart groß, dass man die bekannten Sternbilder nicht leicht ausmachen kann. Die Milchstraße ist ein markanter Streifen direkt über uns. Zwischen den Sternen wird das Schwarz der völligen Materielosigkeit noch offensichtlicher, bis sich die ionisierten, mit dem Erdmagnetfeld interagierenden Sonnenwinde in hellen Bögen als Polarlichter über den Himmel zu bewegen beginnen. Leicht tanzende Bänder und über Bergkuppen hoch aufschießende "Laserstrahlen" sind die dominierenden Phänomene. Gewellter Vorhangstoff, der vom Himmel hängt und sanft von außerirdischen Kräften bewegt wird. Eine Erscheinung verändert sich innerhalb von Minuten in eine neue. Ein ständiges Kommen und Gehen von grün-gelber und manchmal auch rötlicher Pracht. Nichts ist statisch in der Natur, alles ist in Bewegung und permanenter Veränderung. Stille umgibt unseren Atem, der durch den Nebel, der aus den Gesichtsmasken strömt, im Licht der Stirnlampen sichtbar wird, und das Knirschen des Schnees, sobald wir uns auf dem Boden bewegen, um einem neuen Polarlicht mit den Augen folgen zu können. (Christoph Ruhsam, 21.4.2017)

Fortsetzung folgt.

Start der Expedition.