Morgendliches Fahrradchaos. Ein Imbissstand findet keinen Platz mehr.

Erling

Wanderarbeiter Wang Hongwei aus Hebei hat einen neuen Job. Er gehört zur Armada der "Fahrradaufsammler", die jeden Morgen die wild liegen gelassenen Leihräder aufsammeln und zu U-Bahn-Stationen bringen.

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China im Fahrradstrudel – Titelblatt der Zeitschrift "Caixin".

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"Neugeborene Sachen", die auf Chinesisch "Xinsheng Shiwu" genannt werden, schaffen in der Volksrepublik auch neue Arbeitsplätze. Weil alle Städte im ständigen Aus- oder Umbau sind, stehen an ihren Einfahrtsstraßen gewitzte Bürger mit Schildern mit der Aufschrift "Dailu" (Wegführer). Für umgerechnet drei Euro dirigieren sie von auswärts kommende Fahrer durch das Dickicht der Umleitungen zum gewünschten Ziel.

Auch Wanderarbeiter Wang Hongwei hat dank einer solchen "neugeborenen Sache" einen Job in Peking gefunden, für den es noch keine Berufsbezeichnung gibt. Man könnte seine Arbeit mit "moderner Fahrradaufsammler" umschreiben. Er braucht dazu sein Handy mit GPS-Ortungssystem. "In der Morgendämmerung fange ich an", sagt der 34-Jährige, der aus Pekings Nachbarprovinz Hebei stammt. Wang fährt mit seinem Dreiradmotorkarren die Nebenstraßen im südlichen Straßenbezirk Chaoyang ab. "Ich sammle orangefarbene Leihräder von 'Mobike' auf. Neun passen auf meinen Karren." Wang stellt sie bei der nächsten U-Bahn-Station ab. Dann sucht er nach weiteren "Zweiradstreunern", die er einfangen will.

Ärger über Fahrradchaos

Hunderte handybewehrte Bauern sind wie Wang früh im Auftrag von Mietfahrrad-Gesellschaften unterwegs, um die in der Nacht massenweise wild abgestellten Räder in den Gassen zu orten. Sie sind zum öffentlichen Ärgernis geworden. Der Stein des Anstoßes, der viele Pekinger rotsehen lässt, ist orange, grün, gelb oder blau.

Das umweltfreundliche "Share a Bike" – Teilen wir uns ein Fahrrad – sorgt seit wenigen Wochen für Ärger in den Metropolen der Volksrepublik. Anfang 2017 wurden 30 neugegründete Mietrad-Start-ups gezählt, die dutzende Städte mit drei Millionen unterschiedlich buntlackierten Mieträdern überfluteten. Inzwischen seien es mehr als 40 Gesellschaften, die bei Fabriken weitere 30 Millionen Räder bestellt haben, schrieb alarmiert die finanzpolitische Wochenzeitschrift "Caixin". Ihre Titelgeschichte "Das Mietfahrrad im Strudel" beschreibt das plötzliche Fahrradchaos als Preis für eine zu schnelle "Innovationswelle". Investoren stünden Schlange, auch wenn viele vor der neuen dot.com-Blase warnen.

Gelbe und orange Vorreiter in Peking

Die Idee des Mietrades, um den "letzten Kilometer" zu überbrücken, ist alt. Weltweit gebe es 640 solcher Dienste, die 640.000 Räder vorrätig halten, schrieb Hongkongs "South China Morning Post". Doch die nachziehende Autorepublik China setzte mit dem Leihrad zum Spurt an, als Techno-Start-ups das neue Geschäftsmodell entdeckten. Sie rüsteten die Räder mit Onlinesendern und GPS-Trackingelektronik aus. Die Pekinger Unternehmen "Ofo" mit seinen gelben Rädern und der Konkurrent "Mobike" mit orangen Bikes machten den Anfang. Im Oktober 2016 hielten beide eine Flotte von 100.000 Fahrrädern vor. Sechs Monate später sind es knapp fünf Millionen in 50 Städten. Die Dienste von Ofo und Mobike nutzten Ende März jeweils mehr als zehn Millionen Fahrer und bescherten den Start-ups fette Onlinekonten in Milliardenhöhe.

Dutzende Copycat-Firmen folgten. Nirgendwo lässt sich heute ein Rad einfacher und billiger mieten als in China. Jeder kann es mit seinem Smartphone und QR-Code in Sekunden freischalten, wenn er sich zuvor die App der Gesellschaft heruntergeladen, seine Personaldaten registriert und ein Onlinekonto mit umgerechnet 15 bis 30 Euro Depotsumme eröffnet hat. Für jede Stunde Fahrt werden ein paar Cents abgebucht. Wer das Rad nicht mehr braucht, meldet sich ab und lässt es stehen – wo auch immer.

Kein Platz für den Imbisswagen

Junge Chinesen finden das Klasse. Ältere Bürger sind wütend, wenn sie vor ihrem Hauseingang über herumliegende Räder steigen müssen. Auch das Pekinger Ehepaar Zhang klagt. Allmorgendlich versorgen sie mit ihrem mobilen Imbisswagen Passanten mit Frühstück. An der Gongti Beilu dürfen sie bis neun Uhr verkaufen. Doch zuerst müssen sie sich ihren Verkaufsplatz zwischen Bergen von Fahrrädern freischaufeln.

Die Behörden der Städte Peking und Schanghai, in denen laut "Caixin" jeweils eine halbe Million Mieträder herumstehen, haben Parkverbote für Räder erlassen. Im Szeneviertel Sanlitun verjagen "Fahrradstopper" (auch ein neuer Job) die Wildparker. Selbsthilfegruppen haben sich zu sogenannten "Fahrradjägern" (Lie-Ren) zusammengeschlossen, die den in der Gegend abgestellten, gestohlenen oder zerstörten Rädern und demolierter Elektronik hinterherfahnden. Sie schicken Fotos als Beweisstücke mit Fundort und Zeit an die Start-ups. Die finden den "letzten" Fahrer heraus. In China sind 2.000 "Jäger" unterwegs. Von den Start-ups werden sie mit Boni belohnt. Die Übeltäter werden mit Kreditminuspunkten abgestraft, damit sie ihre Räder nur an vorgesehenen Plätzen abstellen.

Manche Blogger sehen das GPS-überwachte Onlinemietradsystem kritisch. Die Fahrer würden "gläsern", ihre Daten könnten mit anderen Verbraucherdiensten abgeglichen werden. Mobike verband sich Ende März mit WeChat, dem chinesischen Whatsapp. In Ofo investierte der Mobiltelefonriese Xiaomi und die Taxiapp Didi. Künftige Synergien, digitale Netzwerke sowie Exporte des Internet of Things ins Ausland sind Gründe, warum strategische Investoren Milliardensummen in die IT-Start-ups pumpen und den ruinösen Wettbewerb anheizen.

Der etwas andere Regenbogen

Mancher Nichtradfahrer freut sich dagegen, wie viel Farbe die Leihräder in den versmogten Verkehr bringen. Der alte Taxifahrer Meng zitierte vergnügt den Vers aus einem Mao-Gedicht, mit dem der Große Vorsitzende einst einen Regenbogen beschrieb: "Rot, Orange, Gelb, Grün, Braun, Blau und Purpur." So sehe es jetzt auch auf Pekings Straßen aus. (Johnny Erling aus Peking, 12.4.2017)