Im Vorort Aulnay-sous-Bois kam es erst unlängst zu Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und der Polizei.

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Die Zone außerhalb der "Bannmeile" (Banlieue) spielt in der aktuellen Wahlkampagne nur eine Nebenrolle. Vielleicht auch, weil sie nicht geografisch, aber mental weit weg vom Pariser Machtzentrum liegt. Verbunden sind deshalb häufig Angstvisionen wie Michel Houellebecqs Beschreibung eines islamischen Wahlsieges. Diese literarische Fantasie ist schon deshalb unrealistisch, weil Muslime in Paris – anders als etwa in London – praktisch nie in die Landeselite vordringen; sie hätten damit gar keine Chance, eine landesweite Präsidentschaftskandidatur aufzubauen. Es gab zwar in den vergangenen Jahren in Frankreich Versuche, "muslimische" Parteien zu lancieren, doch haben sie es selbst in der Banlieue nie zu einer größeren Beachtung, geschweige denn Stimmenzahl gebracht.

Trotzdem: Die Stimmen aus der Banlieue haben Gewicht. Statistisch gesehen gehen die schätzungsweise gut fünf Millionen Muslime im Land (bei einer Gesamtbevölkerung von 65 Millionen) zwar weniger zahlreich an die Wahlurnen als andere. François Hollande verdankte ihnen aber möglicherweise den Wahlsieg im Jahr 2012 gegen Nicolas Sarkozy: Laut Wahlanalysen erhielt er in den Vorstädten 80 bis 90 Prozent der Stimmen.

"Racaille"-Sprüche

Französische Medien sprechen von einer "vote des banlieues" oder gar "vote musulman". Dieser Ausdruck ist allerdings missverständlich: Er suggeriert fälschlicherweise ein einheitliches Verhalten. Zudem hatte das Stimmverhalten zugunsten von Hollande nicht mit einem religiösen Votum zu tun, sondern eher mit der Rückweisung Sarkozys, der die Vorstadtgangs in den Banlieues mit Begriffen wie "racaille" (Abschaum) bedachte und diese gegen sich aufbrachte. So wie die ganze Präsidentenwahl 2012 vor allem ein Anti-Sarkozy-Plebiszit gewesen war. Die Muslime machten davon keine Ausnahme.

Mindestens so interessant ist die Entwicklung nach Hollandes Wahl 2012. Der glücklose Sozialist fiel in den Vorstädten fast noch stärker in Ungnade als im übrigen Land. Als Grund gilt unter anderem sein Einstehen für die Homoehe, die in den gesellschaftspolitisch eher konservativen Wohnvierteln von Muslime oder Arbeitern auf breite Ablehnung stieß. 2014 wurden Hollandes Sozialisten in den Kommunalwahlen nicht nur landesweit, sondern auch im früher "roten" Vorstadtgürtel um Paris hart abgestraft; traditionell links regierte Städte wie Aulnay-sous-Bois oder Bobigny gingen an die Bürgerlichen über.

Moschee als Ort der Macht

Der bekannte Islamkenner Gilles Kepel meint, dieser lokale Umschwung im Pariser Vorstadt-Departement Seine-Saint-Denis (mit der gefürchteten Verwaltungsnummer 93) beruhe nicht zuletzt auf den Wahlappellen von "lokalen Persönlichkeiten aus dem islamischen Engagement". Gemeint sind die Prediger, die Imame oder die "grands frères" (die großen Brüder). "Die Moschee ist ein Ort der Macht geworden, und kein Kandidat kann während einer lokalen Wahlkampagne darüber hinwegsehen", meint Kepel. "Ort der Macht" bedeutet aber eben nicht eine muslimische Bewegung, so wie es in Frankreich keine katholischen oder jüdischen Parteien gibt.

Und für wen werden die Vorstädte 2017 stimmen? Wohl kaum für Marine Le Pen, obwohl sie ein Komitee namens "Banlieues patriotes" gegründet hat und dafür mit Guy Deballe sogar einen Exponenten aus der Zentralafrikanischen Republik gefunden hat. Der Konservative François Fillon wird in den Vorstädten ebenfalls kaum punkten: Er sendet eher Signale an die katholische Wählerschaft, und seine Affären verstärken in den Banlieue-Zonen das Gefühl einer sozialen Ungleichbehandlung gegenüber den Banlieue-Kids, die allein wegen ihrer Hautfarbe in Polizeikontrollen geraten, wie der jüngste Fall "Théo" zeigte.

Die Banlieue wird deshalb wohl wie 2012 links stimmen – aber nicht unbedingt für einen einzigen Kandidaten. Hoffnungen macht sich der Sozialist Benoît Hamon, der mehrere Vorstädte besucht hat und von seinen Gegnern nicht von ungefähr als "islamogauchiste", linksislamisch, gebrandmarkt wird. Hamon gilt allerdings als progressiver Pariser "Bobo" und verliert landesweit Boden an den Kandidaten der Linken Jean-Luc Mélenchon. Der gibt sich strikt laizistisch, verteidigt aber die sozialen Rechte von Immigranten und Einwanderern konsequent; zudem will er den Mindestlohn erhöhen und "börsenmotivierte" Entlassungen verbieten. Das findet in den Vorstädten ein breites Echo.

Populärer Macron

Fast noch populärer in den "cités" scheint Emmanuel Macron zu sein. Der Parteilose will die dortigen Schulen und Lehrer finanziell aufwerten und verteidigt generell die wirtschaftliche Chancengleichheit. Das ist ein wichtiges Thema für die in Frankreich geborenen Banlieue-Jugendlichen, die außerhalb ihrer Siedlung keinen Job oder keine Wohnung findet, weil sie Mohammed oder Karim heißen. Macron ist sogar in klarer Abgrenzung zur Rechten für eine "positive Diskriminierung" ähnlich wie in den USA, um die ethnischen und anderen Ghettos aufzubrechen.

Wie die "cités" im zweiten Wahlgang im Mai stimmen werden, falls Le Pen oder Fillon dorthin vorstoßen sollte, lässt sich einfach ausrechnen – ganz einfach für deren Gegenspieler.

Illusionen machen sich die stimmberechtigten Banlieue-Bewohner aber nicht. Nach den schweren Banlieue-Krawallen von 2005 hatten sich zwar viele junge Erwachsene in die Wählerlisten eingetragen, um politische Mitsprache zu erhalten. Das auf Paris fixierte Wahlspektakel wird in den "cités" allerdings mit großer Distanz betrachtet, wie auch der Soziologe Marc Hatzfeld meint: In einem "von Vitalität und Gewalt gekennzeichneten Alltag" erscheine die französische Präsidentenwahl den Banlieue-Bewohnern – und vielleicht nicht nur ihnen – wie ein "seltsamer Ritus". (Stefan Brändle aus Paris, 12.4.2017)