Marie-Luise Stockinger legt bald auch das Kleid der österreichischen Erzherzogin an – im TV-Zweiteiler "Maria Theresia".

Foto: Robert Newald

Wien – Beim Vorsprechen am Max-Reinhardt-Seminar vor sechs Jahren hat Marie-Luise Stockinger Großvaters Nussschnaps auf das Kleid verschüttet. Ab dann ist aber alles gutgegangen. Heute ist die 24-jährige Oberösterreicherin das jüngste Ensemblemitglied am Burgtheater, wo sie aktuell in fünf Produktionen zu sehen ist. Neu davon ist ab Donnerstag die Rolle der Fanny, Tochter des Aufsteigers Fett in Nestroys Posse "Liebesgeschichten und Heiratssachen". In wenigen Wochen zieht sich Stockinger auch das Kleid von Maria Theresia über und spielt die österreichische Erzherzogin im TV-Zweiteiler von Robert Dornhelm. Einen besseren Karrierestart gibt es kaum.

STANDARD: Wie autoritär ist Theater heute noch?

Stockinger: Ich habe nur meinen jungen Erfahrungsraum und nicht beispielsweise den von Ignaz Kirchner. Seine Geschichten von Zadek, Tabori und Peymann liebe ich, aber ich möchte sie nicht immer erlebt haben. In den Proben muss der Regisseur für mich mehrere Rollen übernehmen: Moderator, Mediator und Sicherheitsbeauftragter. Jemand, der beim Gehen zusieht und am Weg entlang ein Halteseil spannt. Ein Stück probieren ist wie gehen lernen.

STANDARD: In Nestroys "Liebesgeschichten und Heiratssachen" wird rauf- und runtergeheiratet. Die Initiative liegt stets bei den Herren. Wie machen Sie aus Ihrer Fanny eine zeitgenössische Figur?

Stockinger: Der Vater setzt die Frauen seiner Familie ganz klar als Kapital ein. Das läuft wie ein großangelegtes Börsenspiel. Die Frauen haben sich in dem totalitären kapitalistischen System des Herrn Fett zurechtzufinden, aber – darüber habe ich gerade auch mit Regina Fritsch (Lucia) und Stefanie Dvorak (Ulrike) gesprochen – sie sind auch kratzbürstig und wissen, was sie wollen. Die haben Biss.

STANDARD: Das Moderne hat Nestroy in ihnen mitangelegt?

Stockinger: Ich sehe das so. Die Realität entsteht bei Nestroys Figuren vor allem durch Worte, ganz so wie in unserer Tagespolitik. Und Nebel (Markus Meyer, Anm.) versteht es, die Leute mit den jeweiligen richtigen Worten am falschen Platz gegeneinander auszuspielen. Nebel bringt die Figuren in Ecken, wo sie vorher noch nie waren. Alle sind verwirrt und hysterisch und finden in den neuen Handlungsräumen keine Werkzeuge mehr. Genau da blitzt die Wahrheit auf, dass die Familienverhältnisse eigentlich nur Geldverhältnisse sind.

STANDARD: Es geht dabei auch um Neureichen-Bashing.

Stockinger: Ja, bei der Familie Fett wirkt der "Hysteresis-Effekt", so hat das Bourdieu genannt. Damit gemeint ist der Zustand, wenn nach dem Aussetzen einer Kraft die Wirkung weiter bestehen bleibt. Übertragen meint das: Die Fett-Familie lebt in einem neuen Rahmen, hat aber noch den alten sozialen Habitus des Vulgären. Man kann nicht isoliert zum Bourgeois werden, zuerst ist man Mitglied einer Familie, dann Mitglied einer Klasse. Die Figur des Nebel ist dazu da, dies zu demaskieren.

STANDARD: Bei Nestroy, sagt man, gibt es wenig herumzudoktern ...

Stockinger: Das finde ich so lustig, zumal wenn man bedenkt, wie blitzschnell er geschrieben hat, wie viel davon improvisiert ist.

STANDARD: Wie viel Freiheit nehmen Sie sich beziehungsweise die Inszenierung?

Stockinger: Uns geht es vor allem darum, den Menschen in seiner Fragwürdigkeit zu zeigen. Dabei hilft die Musik von Matthias Jakisic sehr. Das Streichquartett unterstützt die komischen, desolaten, auch isolierten, traurigen Figuren, auch das Makabere und die permanente Schieflage der Dinge.

STANDARD: Sie kommen aus St. Florian in Oberösterreich und haben mit Sophie Rois und Birgit Minichmayr zwei fabelhafte Vorgängerinnen. Der HNO-Arzt hat auch Ihnen eine "rostige Stimme" attestiert. Was ist da los im Raum Linz?

Stockinger: Ich weiß es nicht! Ist sicher nicht der Standardfall. Aber es stimmt, ich hatte während meines Studiums mit meiner Stimme zu kämpfen. Ein Professor meinte, es ist spannend, was du spielst, nur wir verstehen dich einfach nicht. An meiner Stimme arbeite ich ständig.

STANDARD: Inwiefern?

Stockinger: Ich mache Stimmbildung, das ist ein reines Muskeltraining. Stimme hat etwas mit Stimmung zu tun, mit Atmung, auch mit der Persönlichkeit. Und ich bin nicht gerade der ruhigste Typ Mensch, eher flirrend.

STANDARD: Wie haben Sie als junger Mensch erkannt, dass Sie mit Körper, Stimme arbeiten können?

Stockinger: Ich hatte diese Idee gar nicht. Bei mir kommt der Zugang zum Theater eher über die Literatur. Das hat sich dann gepaart mit der Sehnsucht nach Ausdehnung. Ich bin als zweites von vier Kindern aufgewachsen, wir sind alle innerhalb von fünf Jahren auf die Welt gekommen. Das verlangte nach Abgrenzung.

STANDARD: Sie haben sich im Garten Ihres Elternhauses auf das Reinhardt-Seminar vorbereitet. Wie darf man sich das vorstellen?

Stockinger: Genau so. Ich wuchs auf einem Vierkanthof auf, da sind wir eingemietet. Ich stand da im Obstgarten mit meinen vier Zetteln und hab zu den Bäumen gesprochen. Nur der Hund war dabei. Niemand sollte mich sehen oder hören.

STANDARD: Hatten Sie Mentoren?

Stockinger: Ich war im Jugendspielklub am Landestheater Linz. Eine Schauspielpädagogin dort sagte zu mir, such dir Texte, die dir sympathisch sind und die du gut verstehst. Das ist sehr wichtig: Du bist nur gut in dem, das du auch bis in die Eingeweide hinein verstehst. Wenn ich das Vorsprechen nicht geschafft hätte, wäre ich zu keinem anderen mehr gefahren.

STANDARD: ... sondern Bundeskanzlerin geworden, habe ich gelesen.

Stockinger: Richtig. Das war Plan B. Ich darf in Kürze Maria Theresia in einem ORF-Zweiteiler spielen. Meine Oma sagte: "Jetzt spielst du die Kaiserin, das kann ich mir gar nicht vorstellen. Das ist ja noch besser als Bundeskanzlerin!" Meine Verwandten warten, glaube ich, seit sechs Jahren darauf, dass ich endlich im ORF auftauche. (Margarete Affenzeller, 12.4.2017)