Premier Binali Yıldırım versuchte, den knappen Sieg groß zu reden.

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Unterstützer der Nein-Kampagne (Hayir) demonstrierten in der Nacht auf Montag unter anderem in Istanbul.

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Barrikaden vor der obersten Wahlbehörde in Ankara.

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In Istanbul versammelten sich auch Unterstützer Erdoğans, die das Ergebnis des Referendums feierten.

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Glückwünsche der Ja-Wähler für Präsidenten Erdoğan.

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Binali Yıldırım kommt auf den Balkon, angetan mit einem langen rot-weißen Schal wie ein Fussballfan. Er hat sich heiser geredet in sechs Wochen Kampagne für seinen Mentor Tayyip Erdoğan und dieses Referendum. Jetzt muss er noch einmal ran.

Der lange Balkon über dem Eingangsportal des Parteisitzes in Ankara ist eine Institution geworden für Siegesreden der konservativ-religiösen Politiker der AKP. "Mit dieser Abstimmung ist ein neues Kapitel eröffnet worden", ruft Binali Yıldırım, während der Regen dünn auf ihn rieselt und auf die zwei Dutzend andere Parteifunktionäre, die sich um einen Platz auf diesem Balkon rangeln. Nur Freude sieht man nicht auf dem Gesicht des türkischen Regierungschefs. Yıldırım muss den knappen Sieg groß reden. Nur rund 51 Prozent haben für die Verfassungsänderung, die Staatschef Erdoğan für sich wollte, gestimmt. Die Mienen sind steinern, die Menge unten schwenkt türkische Fahnen.

1,2 Millionen Stimmen Vorsprung

Man habe nicht so viele Ja-Stimmen erhalten wie erwartet, zitierte die Nachrichtenagentur Reuters Veysi Kaynak, einen der stellvertretenden Regierungschefs. Für die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie und die Einführung eines Präsidialregimes für den amtierenden Staatschef Tayyip Erdoğan stimmten nach Auszählung von 99 Prozent der Stimmen 51,35 Prozent oder 24,8 Millionen der türkischen Wähler. 48,65 Prozent lehnten die Verfassungsänderungen ab. Der Unterschied betrug 1,2 Millionen Stimmen, wie die oberste Wahlkommission am späten Abend verkündete.

Erdoğan hatte noch vergangenen Freitag ein Ergebnis von 55 bis 60 Prozent angekündigt. Jetzt blieb er noch unter dem ähnlich knappen Ergebnis von 51,79 Prozent bei den Präsidentenwahlen vor drei Jahren. In seinem Palast in Ankara trat er später am Abend dann im blau karierten Freizeit-Sakko kurz vor die Presse. "Unser Volk hat seinen Willen frei ausgedrückt", stellt Erdoğan fest. Erstmals werde in der Türkei das Regierungssystem mit Mitteln der zivilen Politik geändert. Mit dem Ende des Referendums würden auch die Streitigkeiten vergessen, sagte der Präsident. Es war seine einzige Erwähnung der knapp 24 Millionen anderen Türken, die gegen sein Präsidialregime gestimmt hatten.

"Nein"-Lager gewann in Großstädten

Zweifel im eigenen Lager, Spaltungen innerhalb von Erdoğans konservativ-islamischer Partei AKP, wo frühere Gefolgsleute sich weigerten, den Wechsel des Regierungssystems zu unterstützen, ließen den Sieg kleiner ausfallen. Symbolisch für die Kritik an Prunksucht und Machtstreben Erdoğans mag das Ergebnis im religiös-konservativen Istanbuler Stadtteil Eyüp am Goldenen Horn sein: Ja und Nein hielten sich dort die Waage.

Ähnlich wie bei der AKP-Wählerschaft akzeptierte wohl auch ein Teil der rechtsnationalistischen Wähler nicht den Gesinnungswechsel von MHP-Chef Devlet Bahceli. Der war erst gegen ein Präsidialsystem, unterstützte es aber dann. In den drei größten Städten der Türkei – Istanbul, Ankara und Izmir – führte das Nein. Nicht einmal in den eigenen Wahllokalen konnten Erdoğan und sein treuer Premier Yıldırım die Nein-Stimmen kleinhalten.

Unregelmäßigkeiten

Mit knapp 87 Prozent war die Wahlbeteiligung wie üblich in der Türkei recht hoch. In der kurdischen Provinz Diyarbakir im Südosten stand das Nein bei 67 Prozent. Dort, aber auch aus den Großstädten Ankara und Istanbul wurde eine Vielzahl von Unregelmäßigkeiten bei der Abstimmung berichtet. Ja-Wähler fotografierten ihren Stimmzettel als Beweis für ihre Loyalität zu Erdoğan; eingeschriebene Wähler versuchten in manchen Fällen, ihre Stimme in mehreren Wahllokalen abzugeben. Wahlbeobachter der Opposition wurden aus Wahllokalen geworfen, Soldaten kontrollierten Wahlkarten in Dörfern im kurdischen Südosten.

Die größte Oppositionspartei CHP kritisierte die Entscheidung der Wahlbehörde scharf, nicht abgestempelte Stimmzettel zu akzeptieren. Die Behörde wies die Einwände zurück: Diese Stimmen seien gültig, sagte Amtschef Sadi Güven am Montag in Ankara. Die kurzfristige Entscheidung, diese nicht verifizierten Wahlzettel bei der Abstimmung am Sonntag zuzulassen, sei noch vor Eingang der Ergebnisse im System gefallen. Zudem habe die Regierung schon in früheren Fällen einen solchen Schritt erlaubt.

Wahlbeobachter: Kritik an Wahlkampfbedingungen

Die internationale Wahlbeobachtermission hat am Montag ungleiche Bedingungen für Befürworter und Gegner des Präsidialsystems kritisiert. Durch die späte Änderung der Abstimmungsregeln seien zudem wichtige "Schutzvorkehrungen" beseitigt worden, kritisierten die Wahlbeobachter des Europarats und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) bei einer Pressekonferenz in Ankara.

Die Opposition kündigte bereits an, bis zu zwei Millionen Stimmen anfechten und notfalls bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen zu wollen. Bulent Tezcan, stellvertretender CHP-Vorsitzender, forderte die Wahlkommission auf, die Abstimmung zu annullieren. In mehreren türkischen Städten wurde gegen das Ergebnis protestiert. In Istanbul gingen in der Nacht auf Montag tausende Menschen gegen Erdoğan auf die Straße. Medienberichten zufolge soll der Ausnahmezustand, der noch bis inklusive Dienstag gelten soll, verlängert werden.

"Ja"-Lager außerhalb der Türkei deutlicher voran

Bei der Stimmabgabe im Ausland lag das Ja mit rund 60 Prozent sehr viel deutlicher voran. In Österreich stimmten laut amtlicher Agentur Anadolu nach Auszählung aller Stimmen 73,23 Prozent (38.215) für die Einführung des Präsidialsystems, 26,77 Prozent (13.972) dagegen. Die Wahlbeteiligung lag bei rund 50 Prozent. In Deutschland stimmten 63,1 Prozent beim Referendum mit Ja, in den Niederlanden 71 Prozent. Auf den höchsten Wert in Europa kam Belgien mit 75,1 Prozent "Ja"-Stimmen.

Die EU-Kommission reagierte zurückhaltend auf den Ausgang des Referendums. Die Verfassungsänderungen "und insbesondere ihre praktische Umsetzung" sollten im Lichte der Verpflichtungen der Türkei als EU-Beitrittskandidat und als Mitglied des Europarats begutachtet werden, ließen die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini, Nachbarschaftskommissar Johannes Hahn und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wissen. Die EU-Vertreter riefen die Regierung in der Türkei zur Mäßigung auf. Ankara müsse bei der Umsetzung der Verfassungsänderungen "den breitest möglichen nationalen Konsens" anstreben, hieß es.

Kurz fordert klares Signal der EU

Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) forderte ein klares Signal der EU. Wenn das Ja auch "sehr knapp" ausgefallen sei, bedeute es, dass sich die Türkei immer weiter von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie entferne. Das Votum sei daher auch "ein klares Signal gegen die Europäische Union", auf das er sich eine klare Reaktion der EU erwarte. "Es braucht endlich Ehrlichkeit, was das Verhältnis zwischen der EU und der Türkei betrifft. Die Zeit des Taktierens muss endlich vorbei sein", verlangte Kurz in einem Telefongespräch mit der APA in der Nacht auf Montag.

Die deutsche Bundesregierung nahm das vorläufige Abstimmungsergebnis zu Kenntnis. Man erwarte von der Regierung in Ankara, dass diese "nach einem harten Referendumswahlkampf einen respektvollen Dialog mit allen politischen und gesellschaftlichen Kräften des Landes sucht", hieß es aus Berlin. Der knappe Ausgang der Abstimmung zeige, "wie tief die türkische Gesellschaft gespalten ist", erklärten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) am Montag.

Der Kreml rief dazu auf, die Ergebnisse des Referendums zu achten. "Wir denken, dass alle die Willensbekundung des türkischen Volkes achten sollten", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Montag in Moskau.

Das neue Präsidialregime soll mit den nächsten für November 2019 vorgesehenen Wahlen in Kraft treten. Politische Beobachter gehen aber davon aus, dass Erdoğan nicht bis dahin warten wird, sondern möglicherweise im Herbst dieses Jahres Parlament und Präsident neu wählen lässt. Vizepremier Mehmet Şimşek bestritt am Montag, dass es Pläne für Neuwahlen gebe. Gemäß der neuen Verfassung wäre Erdoğan alleiniger Chef der Exekutive. Das Amt des Premiers ist abgeschafft. Erdoğan ist auch nicht mehr an das Prinzip der Unparteilichkeit gebunden und führt wieder seine Partei, die konservativ-islamische AKP. Das Parlament kann er ohne Angabe von Gründen auflösen. Allerdings ist dies dann auch immer mit einer Neuwahl des Präsidenten verbunden. (Markus Bernath aus Istanbul, APA, 17.4.2017)