"Nein – Wir werden gewinnen" stand auf Transparenten, die Demonstranten im Istanbuler Stadtteil Kadıköy hochhielten.

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Hülya Sen marschiert nach Ankara. "Eurer Projekt ist nicht unseres", heißt ihr Slogan. Sie trägt ihn auf ihrem T-Shirt geschrieben und twittert damit im Internet. Die Ärztin aus dem Istanbuler Stadtteil Kadıköy rennt gegen die Wahlbehörde in Ankara an. Ein Marsch einer Million Bürger gegen das umstrittene Referendum vom vergangenen Sonntag soll es wohl werden. "Ich möchte jeden an meiner Seite sehen", sagt Hülya Sen. Am Dienstag mogelte sie ein bisschen und nahm wegen des Regens die Fähre übers Marmarameer nach Yalova. 400 Kilometer zur Hauptstadt sind es noch.

Die nationale Wahlbehörde und ihr Leiter Sadi Güven stehen im Zentrum des Gewitters, das sich nach dem so knappen Ausgang des Referendums entlädt. Zu Mittag kommt erst Erdal Aksünger, einer der stellvertretenden Chefs der größten Oppositionspartei CHP, und deponiert seinen Protest. Dann folgt eine Delegation der Wahlbeobachter der OSZE. Auch sie hatte das Vorgehen der Wahlbehörde am Tag der Abstimmung scharf kritisiert. Im Parlament hält derweil Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu eine Brandrede gegen Güven. "Dieses Referendum hat einen Makel, und der Makel ist vom YSK genährt worden."

Sadi Güven, ein früherer Staatssekretär im Justizministerium der AKP-Regierung, hatte die Regeln in den Wahllokalen geändert, als das Referendum schon voll im Gang war. Die AKP wollte es so. Stimmzettel ohne Stempel der Wahlbehörde wurden fortan auch als gültig gezählt. Um 160.000 Wahllokale und möglicherweise 2,5 Millionen Stimmzettel und Wahlumschläge soll es gehen. Die Türken fragen sich jetzt, wie es sein kann, dass eine so große Zahl ungestempelter Dokumente bei einem Monate zuvor angesetzten Referendum im Umlauf ist.

Widersprüche

Sadi Güven weiß keine rechten Antworten darauf. Er nennt ungleich kleinere Zahlen. Es sei nicht klar, ob es 10.000 oder 20.000 solcher Stimmzettel gab, wird er zitiert. Es sei auch kein Verstoß gegen das Wahlgesetz, behauptet der Behördenleiter. Doch im türkischen Wahlgesetz steht das Gegenteil. Stimmzettel und Umschläge ohne Stempel sind ungültig. Noch am Tag der Abstimmung hatte die Wahlbehörde um zehn Uhr früh auf ebendiese Regelung hingewiesen.

Allein der Streit um die nichtgestempelten Wahlzettel ist schon bedeutsam. Offiziell trennten nur 1,25 Millionen Stimmen die Befürworter der Verfassungsänderung für Erdoğan von den Gegnern. Knapp 50 Millionen Türken waren zur Abstimmung gegangen.

Hunderte Bürger kamen am Dienstag dazu noch vor das Gebäude der Wahlkommission in Kızılay im Zentrum von Ankara und versuchten, einen Antrag auf Annullierung der Abstimmung abzugeben. Die CHP reichte einen solchen Antrag dann am Nachmittag ein.

Riskante Straßenproteste

Für den Abend gab es neuerliche Aufrufe zu Straßenprotesten in Ankara ebenso wie in Istanbul, Izmir und in Eskişehir. Am Montagabend sollen bis zu 50 Demonstranten festgenommen worden sein. Proteste sind riskant: Das Parlament sollte noch am Dienstag den seit Sommer vergangenen Jahres geltenden Ausnahmezustand um weitere drei Monate verlängern. Die Bürgerrechte sind eingeschränkt.

Dass das knappe Ergebnis des Verfassungsreferendums mit seinen angeblich 51,4 Prozent Ja-Stimmen korrigiert oder wegen seiner zahlreichen Unregelmäßigkeiten gar annulliert wird, gilt gleichwohl als ausgeschlossen.

Tayyip Erdoğan lässt bereits seinen Staat umbauen: Die Regierungsbank fliegt raus, die Minister sitzen künftig auf der Besuchertribüne. 50 neue Abgeordnetenstühle warten bereits verpackt im Parlament in Ankara: Präsidialregime statt parlamentarischer Demokratie.

Der Umbau des Parlamentsplenums in Ankara ist noch die einfachste Sache. Die Zahl der Abgeordneten wird um 50 auf 600 erhöht, das Amt des Premiers dafür abgeschafft. Bis es aber so weit ist, wird improvisiert. Rechtlich steuert die Türkei in unbekannte Gewässer. 144 "Harmonisierungsgesetze" würden innerhalb der kommenden sechs Monate verfasst, heißt es aus dem türkischen Justizministerium. Denn eine Zwischenlösung muss her für die Zeit, in der das Präsidialregime zwar von der Hälfte des Volks angenommen, aber noch nicht in Kraft ist. Erdoğan will nicht warten bis zur regulären Wahl von Parlament und Präsident Ende 2019. Er bekommt nun eine Art Ermächtigungsgesetz. (Markus Bernath aus Istanbul, 18.4.2017)