Für das Wort "regelmäßig" steht diese Gebärde, regelmäßig werde Gehörlosen auch das Gefühl gegeben, anders zu sein, sagt Helene Jarmer.

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Emil schläft. Im Dunkeln liegt das Baby auf einer Liege im Arztzimmer und ist an Elektroden angeschlossen. Daneben besprechen ein Arzt und eine Ärztin vor einem Computerbildschirm Emils Untersuchungsergebnisse. "Er reagiert überhaupt nicht", sagt der Arzt.

"Es schaut nach der Untersuchung so aus, als würde er nicht hören", erklärt die Ärztin Emils Eltern. Das Baby schläft immer noch. Als die Ärztin ihm einen laut schrillenden Weckerton direkt neben das Ohr hält, rührt Emil sich nicht.

Die Geschichte von Emils Familie ist eine von mehreren, die in dem Dokumentarfilm "Seeing Voices" von Dariusz Kowalski erzählt werden, der seit April in den österreichischen Kinos läuft. Seine zentralen Themen: Gehörlosenidentität und -kultur. Damit gemeint ist die Gemeinschaft der Gehörlosen und aller Menschen, die sich mit Gebärdensprache und Gehörlosigkeit beschäftigen. Die Community verfügt über gemeinsame Sprache, Bräuche, Identität und Kulturgut. Die Gemeinschaft hilft dabei, Werte aufzubauen, das Gehörlossein im geschützten Rahmen zu vergessen.

Sich als Gehörloser wohlfühlen

Auch Emils Eltern gehören zu dieser Gemeinschaft. Als die Ärztin im Untersuchungszimmer ihnen rät, ihrem Sohn ein Cochlea-Implantat (CI) einsetzen zu lassen, um ihm Hören und Spracherwerb von Anfang an zu ermöglichen, winken sie ab, das Implantat ist für sie kein Thema, zu gefährlich sei die Operation am Gehirn. Für sie sei nun vor allem wichtig, dass Emil die Gebärdensprache perfekt lerne, sich als Gehörloser wohlfühle.

"Unsere Gesellschaft muss es als normal akzeptieren, dass ein Kind gehörlos ist, und es nicht als 'besonders' abstempeln", fordert Helene Jarmer. Sie ist Nationalratsabgeordnete für die Grünen, selbst gehörlos, Präsidentin des Österreichischen Gehörlosenbundes und ebenfalls Protagonistin im Film "Seeing Voices".

Besonders das Gefühl, anders zu sein, das gehörlose Menschen immer wieder erfahren, mache es für sie schwer, eine eigene Identität, eine Gehörlosenidentität zu entwickeln. Immer noch würden Gehörlose auch dazu gezwungen, tatsächlich anders zu sein. "In Schulen werden Kinder dazu verpflichtet, nicht in ihrer Sprache, der Gebärdensprache, zu sprechen, sondern lautsprachlich zu kommunizieren – sogar in der Pause", so Jarmer. Dadurch falle es ihnen schwer, stolz darauf zu sein, wie sie sind, "sie bekommen das Gefühl, sich verstecken zu müssen".

Ein schwieriges Kapitel

Gehörlosigkeit ist kein Defizit – so lautet ein Ansatz der Gehörlosenkultur, das wird auch in "Seeing Voices" deutlich. Einer anderen Meinung ist etwa Brigitte Egelierler. Sie ist Logopädin, hat langjährige Erfahrung in der Rehabilitation von Kindern mit CI und meint: "Die Stimme ist die höchste Ausdrucksmöglichkeit unserer Gefühle. Einem Kind, das die Stimme seiner Mutter nie gehört hat, fehlt viel, vor allem für seine psychosoziale Entwicklung." Egelierler selbst kennt einige Fälle, in denen Eltern ihren Kindern das CI verweigert haben. Teilweise hat sie auch Verständnis dafür: "Die Gehörlosen haben ihre Kultur, die wollen sie erhalten." Die Entscheidung für oder gegen ein CI sei "ein ganz besonders schwieriges Kapitel".

"Wenn man es rein technisch sieht, ist die Entscheidung einfach", sagt hingegen Ewald Thurner von Med-EL, einem Unternehmen mit Sitz in Innsbruck, das implantierbare Hörsysteme wie das CI entwickelt und produziert. "Bei solchen Entscheidungen sollte man ganz nüchtern bleiben, und Tatsache ist: Will man dem Kind die Chance geben, irgendwann zu hören, dann muss man implantieren. Stellen sich Eltern gegen das CI, kann die Entscheidung später nicht mehr rückgängig gemacht werden."

Der richtige Zeitpunkt

Tatsächlich verschließt sich die Plastizität des Gehirns mit zunehmendem Alter. Der optimale Zeitpunkt für die Implantation ist daher zwischen einem halben und drei Jahren, so die Experten. "Danach ist eine Implantation zwar möglich, die Therapie wird aber für alle Beteiligten schwieriger", sagt Egelierler. Man höre in der Aussprache einen deutlichen Unterschied zwischen Kindern, die früh implantiert wurden – sie entwickeln sich meist wie hörende Kinder –, und jenen, denen ein Implantat später eingesetzt wurde. Generell gilt, dass das Einsetzen eines Implantats bei einem Erwachsenen, der zuvor noch nie hören konnte, nicht sinnvoll ist, weil Sprechen dann nicht mehr erlernt werden kann.

Was die Operation anbelangt, gibt Wolfgang Gstöttner, Vorstand der Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten der Medizinischen Universität Wien, Entwarnung. Der Eingriff sei mittlerweile Routine und ungefährlicher als eine Mandeloperation, er selbst habe nach 1.500 Eingriffen noch keine schweren Komplikationen erlebt.

Die Kritik am Eingriff gebe es schon seit der ersten Operation, so Gstöttner. "Mittlerweile haben sich die Implantate allerdings durchgesetzt, ganz einfach weil der Datenaustausch durch Hören und Sprechen die effektivere Kommunikation ist." Ein Ersatz wie die Gebärdensprache komme daran nicht heran. (Bernadette Redl, 4.5.2017)