Ob der Anschlag auf den Pariser Champs-Élysées ein IS-gelenkter Terroranschlag oder eine kriminelle Einzeltat war, stand am Freitagmorgen noch nicht fest. Das rasch publizierte Bekennerschreiben des "Islamischen Staats" (IS) bleibt Gegenstand von Untersuchungen, zumal es offenbar einen falschen Täternamen enthält. Für die öffentliche Debatte – und darum geht es zwei Tage vor der präsidialen Schicksalswahl – ändert das wenig: Das Wort "terreur" ist wieder in aller Munde.

Überrascht ist in Frankreich niemand. Nicht nur Geheimdienste und Regierung rechneten seit Wochen mit der Möglichkeit eines Anschlags auf die demokratische Institution der Präsidentschaftswahl. Noch diese Woche war in Marseille ein wohl größerer Anschlag in letzter Minute verhindert worden, als zwei Verdächtige mit einem ganzen Waffenarsenal verhaftet wurden.

Böse Erinnerungen

Trotzdem weckt der Polizistenmord auf den Champs-Élysées böse Erinnerungen an die drei furchtbaren Attacken von 2015 und 2016 ("Charlie Hebdo", Bataclan, Nizza), die insgesamt hunderte Tote und Verletzte forderten. Damit stellt sich unweigerlich die Frage, ob und wie sich diese Schießerei auf den ersten Wahlgang am Sonntag auswirken wird. Und natürlich könnten Frankreichs Wähler, die laut Umfragen zu mehr als einem Drittel unentschlossen sind, nun stärker versucht sein, auf die Verfechter von Ordnung und Sicherheit zu setzen – konkret auf die Nationalistin Marine Le Pen und den Konservativen François Fillon. Es würde zur perversen Logik des Jihad passen, gewollt oder nicht jene Kandidaten zu fördern, die den Islamismus am härtesten bekämpfen wollen.

Fillon reagierte jedenfalls noch am Donnerstagabend, um die Aussetzung des Wahlkampfs zu verlangen. Das war eine eher symbolische Forderung, da die Kampagne ohnehin am Freitagabend zu Ende geht. Aber politisch zeigt sie, wie schnell die französische Rechte die Gelegenheit erkannt hat, die bis zuletzt unentschlossenen Wähler auf ihre Seite zu ziehen.

Frage, ob Le Pen profitiert

Ob Marine Le Pen von der Tat auf den Champs-Élysées profitiert, muss sich weisen. Nach den Attacken von 2015 hatte sie in den folgenden Regionalwahlen nur beschränkt – und vielleicht nicht wegen der Terroranschläge – zugelegt. Denn so viel Sicherheit sie auch verspricht: Als "sicherer Wert" kann die Front-National-Kandidatin wirklich nicht gelten, würde doch allein schon ihr EU-Ausstiegsszenario Frankreich in eine wirtschaftliche Krise stürzen.

Die Frage ist letztlich, wie anfällig die Franzosen für Le Pens Wahldemagogie sind. Lassen sie sich von neu geweckten Terrorängsten leiten? Oder erkennen sie zum Beispiel, dass die von Le Pen als Erstes ins Feld geführte Schließung der Landesgrenzen diese Anschläge nicht verhindert hätte, weil die Attentäter zumeist in Frankreich aufgewachsen sind? Möglicherweise führt der Anschlag von Donnerstagabend den – leider terrorerprobten – Franzosen von Neuem den Ernst der Lage vor Augen und hält sie insofern zu einem überlegten Abstimmungsverhalten an. Man kann es nur hoffen. (Stefan Brändle aus Paris, 21.4.2017)