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Ice Bucket Challenge machte die neurodegenerative Erkrankung ALS bekannt. An der weltweiten Spendenaktion 2014 nahm auch der kanadische Premierminister Justin Trudeau teil.

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Wien – Die Scheinwerfer der öffentlichen Aufmerksamkeit waren nur äußerst kurz auf die Erkrankung gerichtet: Als Menschen im Rahmen der Spendenaktion Ice Bucket Challenge im Internet aufgefordert wurden, sich entweder einen Kübel mit Eiswasser über den Kopf zu schütten – oder einen bestimmten Betrag für die Erforschung von ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) zu spenden.

Drei Jahre später fristet die neurodegenerative Erkrankung ein Schattendasein. "ALS-Patienten haben anders als Patienten mit multipler Sklerose keine Lobby", beklagt der Neurologe Stefan Quasthoff von der Med-Uni Graz. Die Erkrankung ist nicht nur vergleichsweise selten – pro Jahr erkranken etwa zwei bis drei von 100.000 Einwohnern, die Patienten versterben auch nach ein paar Jahren. "Damit ist das 'Problem' zynisch gesagt erledigt", so Quasthoff. Tatsächlich verlieren Betroffene nach und nach die Kontrolle über Arme und Beine, können kaum oder gar nicht mehr schlucken und sprechen und sterben oft im Laufe von drei bis bis fünf Jahren an den Folgen einer Lähmung der Atemmuskulatur.

Riluzol als einziges Medikament

Was genau für den massenhaften Untergang von Nervenzellen im Gehirn verantwortlich ist, liegt bislang noch ziemlich im Dunkeln. Dementsprechend frustrierend sieht es an der Medikamentenfront aus: Einzig und allein das Medikament Riluzol kann das Überleben der Patienten nachweislich verlängern.

Bei ihrem Versuch, dem Geheimnis der mysteriösen Erkrankung auf die Spur zu kommen, hat die Forschung in den letzten Jahren eine im Grunde alte Sichtweise wiederentdeckt: ALS ist ihr zufolge nicht nur eine motorische Erkrankung, sondern eine Krankheit, bei der das Nervensystem in vielfältiger Weise geschädigt ist. "Erfahrene Diagnostiker aus der Klinik wissen das schon lange", sagt Quasthoff. Man müsse den Patienten nur ins Gesicht schauen.

"Die Betroffenen blicken einen mit weit aufgerissenen Augen an, wechseln rasch zwischen Lachen und Weinen und können Emotionen des Gegenübers schlechter interpretieren." Das hänge mit einer gestörten emotionalen Verarbeitung zusammen. Auch andere kognitive Defizite wie Einschränkungen des Gedächtnisses und der Sprache lassen sich ausmachen.

Verklumpte Nervenzellen

Neu ist nun allerdings, dass man in den letzten Jahren die Spur der Verwüstung in den grauen Zellen im Labor nachzeichnen konnte und dabei auch einen möglichen Übeltäter ausgemacht hat: ein kleines Protein, das offenbar großen Schaden anrichten kann. Das berichteten Forscher um den Neurologen Albert Ludolph vom Universitätsklinikum Ulm 2016 in einer Übersichtsarbeit im Fachblatt "Der Nervenarzt". Bei TDP-43 handelt es sich um ein Protein mit vielfältigen Funktionen, das sich – ähnlich wie bestimmte Eiweiße bei der Alzheimer-Krankheit – ablagert. Das Eiweiß verursacht "Verklumpungen" in den Nervenzellen und führt schließlich zu deren Untergang.

Ludolph und seine Kollegen konnten zeigen, dass das Protein offenbar von Nervenzelle zu Nervenzelle weitergegeben wird. Die Ausbreitung der Verklumpungen verläuft in verschiedenen Stadien und in unterschiedlichen Hirnarealen. Das könnte erklären, warum ALS eine Erkrankung mit vielen Gesichtern ist, bei der neben der Motorik auch andere Fertigkeiten beeinträchtigt sind.

"Das ist ein interessanter Befund", sagt Quasthoff. Man wisse aber nicht, was Henne und was Ei ist. Sind diese Ablagerungen der Auslöser von ALS oder selbst nur das Ergebnis eines anderen krankhaften Prozesses? "Es ist noch unbekannt, ob TDP-43 nur eine 'Spur' in einem Kriminalfall oder der Täter ist", räumt Albert Ludolph ein. Aber anhand dieses Proteins könne man erstmals den formalen Ablauf der Erkrankung nachvollziehen.

Neue Ansätze

Allein schon daraus könnten sich neue Therapieansätze ergeben, hofft Ludolph auch mit Blick auf die vielen in der Vergangenheit gescheiterten Medikamentenstudien. Eine Möglichkeit könnte darin bestehen, die Ansammlungen des falsch gefalteten Proteins zu beseitigen. Doch Stefan Quasthoff ist skeptisch: "Es ist wohl ähnlich wie bei Alzheimer: Würde man die abgelagerten Proteine entfernen, wären die Patienten wahrscheinlich auch nicht geheilt."

Quasthoff beschäftigt sich seit Ende der 1980er-Jahre mit ALS und hat schon manche Hoffnung verfliegen sehen. "Als das Medikament Riluzol auf den Markt kam, hieß es, man könne ALS in Zukunft heilen." Dem war nicht so. "Ich bin skeptisch, was Behandlungserfolge in der nächsten Zeit angeht."

Wichtig sei, dass ALS gesellschaftlich und politisch anerkannt wird. Es ist für Betroffene und ihre Angehörigen in Österreich oft ein mühsamer Kampf, eine hohe Pflegestufe und einen Rentenanspruch zu erhalten. "Da wird schon mal ein Antrag auf Reha abgelehnt mit dem Hinweis, dass man es in ein paar Jahren wieder versuchen soll, obwohl die Patienten diese Zeit nicht haben!" Und noch etwas ist dem Neurologen wichtig: Patienten mit einem Verdacht auf ALS oder ungeklärten motorischen Symptomen sollten schnellstmöglich in ein spezialisiertes Zentrum überwiesen werden. "Denn meist dauert es sonst anderthalb Jahre, bis überhaupt die Diagnose gestellt wird." (Christian Wolf, 23.4.2017)