Conchita Wurst gilt in Russland als Symbolfigur für den angeblich degenerierten Westen.

Foto: APA / Georg Hochmuth

Vergewaltigungen, Pädophilie, Inzest und Sodomie – russische Medien lancieren seit Jahren gefälschte oder verzerrte Nachrichten in Frankreich und Deutschland. Viele davon sollen sexuelle Abscheu gegenüber Asylsuchenden und Politikern erregen, die diesen Schutz gewährten. Auch Verschwörungstheorien über Terroranschläge unter falscher Flagge und Nazismus sind Teil der Propagandakampagne, die Moskau vor den Wahlen in Frankreich und Deutschland fährt.

Die Geschichte über die 13-jährige Lisa ist eine der bekanntesten Falschmeldungen dieser Art. Lisa riss für ein paar Tage von zu Hause aus und erzählte ihrer Familie, dass sie von arabischen Männern entführt und vergewaltigt worden sei.

Die deutsche Polizei erklärte, dass dies nicht den Tatsachen entspräche. Später gestand das russischstämmige Mädchen, dass es die Geschichte frei erfunden hatte. Dennoch wurde sie von jeder großen russischen Nachrichtenagentur als Tatsache gemeldet und vom russischen Außenminister persönlich bestätigt.

Merkel schädigen

Die Geschichte wurde über Monate von prorussischen Internetseiten in ganz Europa verbreitet und fand eine noch weitere Verbreitung durch russische Trolle und Bots in den sozialen Medien. Sie war darauf ausgelegt, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, eine Verfechterin der EU-Sanktionen gegen Russland, zu schädigen. Es wurde suggeriert, dass Merkels Politik der Flüchtlingsaufnahme Deutsche in Gefahr bringe.

Die Story hatte außerdem zum Ziel, Rassenhass in der deutschen Gesellschaft zu säen und wurde von Straßenprotesten begleitet, die von russischen Auswanderergruppierungen organisiert worden waren.

Der Fall veranschaulicht die russische Vorgehensweise. Mediale Schwergewichte wie der TV-Sender Russia Today und das Onlineportal "Sputnik" arbeiten mit Randwebseiten und einzelnen Bloggern, Trollen und Bots zusammen, um Desinformation zu verbreiteten. Die Veröffentlichungen in einer EU-Sprache werden übersetzt und crossgepostet.

2951 Fälle von Fake-News

"EUobserver" hat 2951 Beispiele russischer Fake-News untersucht, die von der East Stratcom, der Propagandaabwehreinheit des Auswärtigen Dienstes der EU, seit Oktober 2015 gesammelt und veröffentlicht worden sind.

Der Großteil dieses Materials hat den Zweck, die russische Außenpolitik zu legitimieren. Dazu gehört die Annexion der Krim oder die militärische Intervention in Syrien. Daneben hat die Kampagne zum Ziel, die zunehmend totalitäre Herrschaft des russischen Staatschefs Wladimir Putin zu rechtfertigen, indem behauptet wird, der Westen und die Nato würden versuchen, Russland einzukreisen.

Von 189 Geschichten, die laut East Stratcom direkt auf Frankreich und Deutschland abzielten, enthielten 28 (15 Prozent) sexuelle Verleumdungen gegenüber Migranten oder der LGBTI-Gemeinschaft in diesen Ländern.

Dutzende weitere benutzten sexuelle Inhalte, die auf andere EU-Staaten abzielten. Es soll das irreführende Bild eines europaweiten Notstandes gezeichnet werden, der von Merkel sowie dem französischen Präsidenten François Hollande und den EU-Institutionen verursacht worden ist.

Ein europäischer Diplomat, der seinen Namen nicht veröffentlicht sehen will, sagte dem "EUobserver", dass die Verwendung von Sex als Propagandawaffe kein Zufall sei: "Sex bleibt im Gedächtnis haften. Er ruft eine Menge von Emotionen hervor, und wenn es dein Ziel ist, die Menschen nicht zu informieren, sondern sie auseinanderzutreiben, sie weiter zu verängstigen, wütender zu machen, dann ist das genau die Art von Botschaft, die du brauchst."

Beste Propagandawaffe

Der Experte beim Thinktank European Values in Prag, Jakub Janda, fügt hinzu: "Sex wird benutzt, da er emotional mobilisiert und das Narrativ stützt, dass die westliche Führung der Mainstreampolitik zu weich, unfähig, oder nicht bereit ist, unsere eigenen Leute zu verteidigen."

Die Lisa-Geschichte wurde in Verbindung mit verzerrten Berichten über sexuelle Übergriffe von Arabern auf deutsche Frauen in der Silvesternacht 2016 in Köln lanciert. Diese Übergriffe fanden statt, aber russische Medien behaupteten dazu fälschlicherweise, dass Merkel sich geweigert habe, sie zu verurteilen, und dass die Polizei aus politischer Korrektheit nicht eingegriffen habe.

Im Juni 2016 berichtete das russische Fernsehen, dass ein Migrant eine junge deutsche Frau vor einen Zug gestoßen habe. Die Tat ist echt, nur handelte es sich bei dem Täter nicht um einen Migranten. Im September behaupteten russische Medien, dass die deutschen Gerichte von Sexverbrechen, die von Migranten begangen worden seien, "überschwemmt" seien und dass die deutsche Polizei nicht mit ihren Statistiken über die Verbrechen von Migranten Schritt halten könnte.

Unbegründete Behauptungen

Im Mai 2016 zitierte die russische Fernsehshow "Vesti Nedeli" die Französin Raphaelle Tourne, dass Migranten sie verbal missbraucht hätten und dass sie Angst hätte, in ihrer eigenen Nachbarschaft auszugehen. Das Zitat war gefälscht. Im November verbreitete ein tschechischer Pro-Russland-Blogger Fake-News, die besagten, dass die französische Regierung mit islamischen Radikalen heimlich vereinbart hätte, Zonen einzurichten, in denen die Scharia, islamisches Recht, gelten würde, welche Frauen unterdrücke.

Russische Quellen wiederholten Sexgeschichten über Migranten, die aus Österreich, Belgien, Dänemark, Finnland, Italien, Norwegen und Schweden stammten. Sie verbreiteten auch fälschlich, dass Migranten in einem Kloster im italienischen Mailand fünf Nonnen geschwängert hätten, die ihnen Schutz gewährt hatten.

Im Jänner meldeten prorussische Medien, dass Deutschland tschechische Prostituierte angeworben habe, damit sie mit Migranten Sex haben, sodass sie anschließend sexuell übertragbare Krankheiten in Tschechien verbreiten. Dies sei Deutschlands Rache dafür, dass Prag sich weigere, sich an den EU-Migrantenverteilungsquoten zu beteiligen. Im Februar wurden die unbegründeten Behauptungen verbreitet, dass in Deutschland die Sodomie aufgrund von afrikanischen Einwanderern auf dem Vormarsch sei.

Auswirkungen

Im November 2015 schrieb eine tschechische Pro-Russland-Webseite, dass Deutschland plane, Pädophilie in der EU zu legalisieren. Im April letzten Jahres berichtete ein russischer Blogger, dass die westlichen Länder Inzest, Kannibalismus und Nekrophilie legalisieren würden. Im Mai meldete die russische Zeitung "Prawda", dass Merkel lesbisch sei und Pädophilie legalisieren wolle. Im Oktober behauptete der russische Fernsehsender Ren TV, dass europäische Männer Polygamie praktizieren wollen, da sie auf muslimische Migranten eifersüchtig seien, die mehr als eine Frau haben.

Niemand hat bisher eine detaillierte Umfrage zu den Auswirkungen solcher Geschichten auf die öffentliche Meinung in Frankreich und Deutschland gemacht. Aber eine Erhebung des US-Instituts Pew aus dem Jahr 2016 zeigt, dass russische Propaganda bereits einen großen Unterstützerkreis in Europa hat. Pew fand heraus, dass zwischen 25 und 30 Prozent der Menschen in Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien etwa glauben, dass trotz einer Fülle an Beweisen keine russischen Truppen in der Ostukraine kämpfen.

Es gibt auch keine detaillierte Studie darüber, wie groß die Zusammenarbeit von russischen Medien mit Randwebseiten und einzelnen Bloggern ist oder wer Agent des Kremls ist und wer welche gefälschten Inhalte deshalb verbreitet, weil diese für wahr gehalten werden.

"Dieses riesige mediale Ökosystem hat verschiedene Teile mit verschiedenen Zielen. Unser Wissen darüber ist noch recht begrenzt. Es ist ziemlich beängstigend, und es ist offensichtlich, dass sie unser Publikum viel besser kennen, als wir es kennen", sagt der europäische Diplomat.

Attacke gegen Macron

"Wir müssen wissen, wie viele desinformationsorientierte Multiplikatoren es gibt, wer eher dazu dient, die Geschichte in Umlauf zu bringen, wer eher für die Bereitstellung von Material für Desinformationskanäle in anderen Sprachen zuständig ist, wer zuständig ist für das allgemeine Publikum und wer Meinungsmacher erreichen soll", erklärte er. Und weiter: "Einige arbeiten definitiv unabhängig vom russischen Zentralgehirn." Wenn europäische Medien oder Blogger solche Desinformationen in gutem Glauben wiedergäben, dann wäre dies "das ideale Ergebnis dieses unglaublichen Flächenbombardements an Informationen".

Die Vergewaltigungsgeschichten über Migranten sind Teil eines breiteren Narrativs, das Putin und die Pro-Putin-Parteien in Europa als Hüter von erzkonservativen Werten porträtiert. Diese Geschichten laufen parallel zu homophoben Fake-News, die so konzipiert sind, dass sie Ablehnung gegen die europäische LGBTI-Gemeinschaft sowie gegen liberale Politiker wie Merkel, den französischen Präsidentschaftskandidaten Emmanuel Macron oder die EU-Institutionen, die die Rechte sexueller Minderheiten verteidigen, schüren sollen.

In einem direkten Angriff auf die französische Präsidentschaftskampagne im März verbreitete das russische Fernsehen unbegründete Gerüchte, dass der russlandkritische Macron eine schwule Liebesbeziehung unterhalte. Das russische Fernsehen berichtete im vergangenen Februar, dass das Europäische Parlament Homosexualität in Frankreich fördere, um den Unterschied zwischen Männern und Frauen zu nivellieren.

Russland stellt sich auch als Bollwerk gegen den angeblichen Aufstieg des Faschismus in Europa dar, obwohl es Neonazi-Parteien wie die NPD oder die Pegida-Bewegung in Deutschland unterstützt. Moskau unterstützt auch Parteien wie den Front National in Frankreich oder die AfD in Deutschland – und daneben extrem linke Anti-EU-Parteien wie die Kommunistische Partei und die Linkspartei in Frankreich sowie Die Linke in Deutschland.

Inkohärente Strategie

Dies ist nicht die einzige Inkohärenz in der Desinformationsstrategie: Auf der einen Seite werden die Staats- und Regierungschefs der EU beschuldigt, zu schwach zu sein, um ihre Bürger vor Terroristen mit Migrationshintergrund zu schützen. Auf der anderen gab es immer wieder Einzelberichte, die Führungspersönlichkeiten Frankreichs, Deutschlands, der EU und der USA beschuldigten, Angriffe von Jihadisten unter falscher Flagge organisiert zu haben, um es als Vorwand für die Errichtung einer supranationalen Herrschaft zu nutzen.

Dieser Strom an Desinformation begann mit Berichten in deutscher und tschechischer Sprache, die behaupteten, dass die französischen Behörden im Jänner 2015 die Schießerei bei dem Satiremagazin "Charlie Hebdo" in Paris "inszeniert" hätten, um ein Durchgreifen gegen die Anti-EU-Partei Front National zu rechtfertigen.

Später wurde in einem weiteren Fluss an Geschichten in tschechisch-, englisch-, und russischsprachigen Medien die EU als die Fortsetzung von Nazi-Plänen beschrieben. Sie behaupteten, dass die EU ein totalitäres Regime sei, das Loyalität zu Merkel durchsetze, und dass europäische Kinder dazu erzogen würden, sich beim Schlafgehen an Hitlerpuppen zu kuscheln.

Westliche Verschwörungstheoretiker

Jakub Janda sagt, dass die Verschwörungstheorien des Kreml dazu dienen, mit ideologischen anstatt finanziellen Mitteln Schreiber aus der EU zu rekrutieren. Die Verschwörungstheorien sollen eigene Ansichten der EU-Schreiber ansprechen, damit sie diesen vertrauen und anschließend die weniger abwegigen russischen Geschichten "unentgeltlich" verbreiten: "Russland erreicht die westlichen Verschwörungstheoretiker und Extremisten auf einer ideologischen Basis, indem es Narrative zur Verfügung stellt, die für sie Sinn machen. Diese Leute wiederholen russische Geschichten dann umsonst, da sie daran glauben."

Man muss sehen, ob Russland in Europa erreichen kann, was es bei der Wahl in den USA mit seiner Unterstützung Trumps erreicht hat. Die russische Medienkampagne dürfte nach den französischen und deutschen Wahlen nicht enden, auch wenn diese nicht zugunsten Moskaus ausfallen. Das "Ökosystem" russischer Propaganda mit seiner Mischung aus Kreml-geförderten Medien, nützlichen Idioten und hochemotionalen Themen schafft in Europa einen fruchtbaren Boden für kurz- oder langfristige politische Schocks. (Andrew Rettman*, 22.4.2017)