Die Türkei ist tief gespalten. Bis heute weiß niemand, wer das Referendum dort wirklich gewonnen hat. In Österreich ist das anders: Der Sieger heißt Erdogan. Aber warum?

"Alles Bauern." Damit haken viele meiner Freunde die türkischen Einwanderer politisch ab. Voreilig. Weil wir es erstens schaffen müssen, auch frühere anatolische Bauern oder zumindest ihre Enkel zu integrieren; und zweitens, weil es nur der erste, kleinere Teil einer Erklärung ist.

Erdogan hat dort gewonnen, wo er über starke Brückenköpfe mobilisieren konnte: in Belgien, Österreich, den Niederlanden und Deutschland, in dieser Reihenfolge. Wir sind Erdogans europäische Nummer zwei, weil wir zugesehen haben, wie er viele unserer Türken für sich eingenommen hat.

Versagen unserer Integrationspolitik

Das liegt zuallererst am dreißigjährigen Versagen unserer Integrationspolitik. Wenn heute unser Außenminister täglich dem Integrationsminister neue Forderungen stellt und dafür von Medien gefeiert wird, macht das alles nicht leichter.

Aber es liegt auch an falscher Toleranz. Wir haben zugesehen, wie Einwanderer ihren rückwärtsgewandten Islam mitgebracht haben. Mangels Stützen, die ihnen ihr Gastland versagt hat, haben sie sich an ihm festgehalten. Dass ihr Islam ein Mühlstein, der sie in die Vergangenheit zurückzieht, ist, haben wir übersehen. Lange schien das kein Problem. Aber seit der Islam auch bei uns als Politik auftritt, brauchen wir politische Antworten.

Erdogan selbst hat sich nach langem Wanken zwischen Europa und seinem Sultanat für Letzteres entschieden. Erdogans Statthalter wollen ihre lokalen islamischen Bastionen, jetzt, mitten unter uns. Zuerst haben Erdogans Funktionäre die Macht über Moscheen und die Islamische Glaubensgemeinschaft übernommen. Jetzt wollen sie Schulen und die Kontrolle über die Imame. Über ihren Teil an der politischen Macht reden sie noch nicht.

Wir können es uns nicht aussuchen: Wir haben den Konflikt mit Erdogan mitten in unserem Land. Wir können ihn gewinnen. Die Klärung unseres Umgangs mit der Staatsbürgerschaft gehört dazu.

Keine Doppelstaatsbürgerschaft

Ein irischer Freund fragt mich, warum ich ihm die Doppelstaatsbürgerschaft wegnehmen will. Er übersieht eines: Türken sind keine Iren. Ich sehe weit und breit keine irische UETD, keine ATIB und keinen Erdogan. Dem irischen Freund und anderen haben wir hoffentlich bald eine neue Lösung anzubieten: die Unionsbürgerschaft. Unser Staatsbürgerschaftsgesetz ist eindeutig: Wer unsere Staatsbürgerschaft erwerben will, muss seine bisherige zurücklegen. Nicht nur als Abgeordneter plädiere ich für die Einhaltung unserer Gesetze.

Der österreichische Gesetzgeber verlangt von neuen Bürgern eine Entscheidung. Es stimmt, diese Entscheidung macht gegenüber Irland, Brasilien oder den USA nicht viel Sinn. Im Fall der Türkei ist sie sinnvoll und wichtig. Sie zwingt heute zu einer Entscheidung: Wirst du Bürger des österreichischen Rechts- und Verfassungsstaates werden, oder willst du Bürger der neuen islamischen Republik Türkei bleiben? Erdogan will seine Türken in ihren neuen Heimatländern isolieren. Wir wollen sie integrieren. Das eine schließt das andere aus. Daher verlangen wir Entscheidungen. Für den demokratischen Verfassungsstaat mit Gleichberechtigung, Trennung von Staat und Religion und den großen Freiheiten von Meinung, Versammlung und Presse.

Dazu gehört auch der Respekt vor unseren Gesetzen. Wer die neue Staatsbürgerschaft mit einem Bruch des Staatsbürgerschaftsgesetzes beginnt, hat das nicht verstanden. Jede falsche Toleranz gegenüber dieser Verwaltungsübertretung ist eine Einladung, andere, wichtigere Gesetze zu missachten.

AKP-Überwachungsstaat

Der Innenminister hat gemeinsam mit dem Außenminister in der Erdogan-Beschimpfung Außerordentliches geleistet. Gleichzeitig hat er geduldet, dass unter seiner Nase der AKP-Überwachungsstaat aufgebaut worden ist. Die illegalen türkischen Staatsbürgerschaften konnte er nicht kontrollieren, weil die Türkei in diesen Fragen jede Zusammenarbeit verweigert. Jetzt liegen die Wählerlisten vor, und der Minister kann.

Schon jetzt ist klar, dass es hier einige "Täter" gibt, die mit der österreichischen Staatsbürgerschaft Schwindel betreiben. Aber es gibt auch Opfer, Österreicher, die zu ihrer Überraschung feststellen, dass sie von Erdogan nach wie vor als türkische Bürger geführt werden. Österreichische Präsenzdiener bekommen Einberufungsbefehle aus Ankara. Und Österreicherinnen finden sich plötzlich in türkischen Wählerverzeichnissen wieder. Bei einer Türkeireise kann das zu fatalen Folgen führen, vom Zwangswehrdienst bis zur Verhaftung wegen Kritik am Führer. Gemeinsam mit dem Verteidigungsminister arbeite ich hier seit Wochen an einer Lösung. Nur dem Innenminister mangelt es noch an Interesse. Aber das Wichtigste bleibt: Solange Österreicher türkische Staatsbürger bleiben, erhebt Erdogan Anspruch auf sie, in der Türkei und in Österreich. Wie die iranische Führung weigert sich auch die Führung der Türkei, die Menschen, die bei ihnen geboren sind, gehen zu lassen.

Klare Verhältnisse

Es bleibt dabei: Die Türken in Wien-Favoriten sind unsere Türken. Wir tragen für sie genauso die Verantwortung wie für Obersteirer wie mich. Nur wenn wir sie im Stich lassen, überlassen wir sie Erdogan und den Muslimbrüdern. Aber Integration setzt auch eines voraus: klare Verhältnisse. Bei unseren Grundwerten und bei der Einhaltung unserer Gesetze.

"Toleranz" kann zweierlei heißen: Respekt vor dem Anderen – oder Desinteresse. Unsere Toleranz gegenüber türkischen Gastarbeitern hatte wenig mit Offenheit, Verständnis und Förderung und viel mit Ignoranz zu tun. Das ist lange scheinbar gutgegangen. Jetzt, mit dem machtbewussten politischen Islam mitten unter uns, geht das nicht mehr.

Werden wir jetzt Rechte, weil wir immer öfter an unseren alten Antworten zweifeln? Denken wir an die Alternative: Dann heißt es "Türken raus!" und nicht "Integration und klare Regeln". Ich will unsere Zukunft nicht der nationalistischen Rechten und unsere Türken nicht Erdogan überlassen. Deshalb beginne ich Diskussionen, die für uns alle schwierig sind, nicht nur, wenn es um Staatsbürgerschaften geht. Persönlich bleibe ich Gutmensch. Mit immer weniger Illusionen. Aber die verliere ich lieber als das Fundament unserer Freiheit: den europäischen Verfassungsstaat. (Peter Pilz, 23.4.2017)