Nathan Christensen, CEO des US-Personaldienstleisters "Mammoth", bot seinen Mitarbeitern ein Jahr lang unbegrenzten Urlaub an. Sie konnten soviel bezahlten Urlaub nehmen, wie sie wollten. Mit dem Ergebnis, dass seine Angestellten nicht mehr Urlaubstage in Anspruch nahmen als zuvor. In anderen US-Unternehmen, wo den Mitarbeitern das gleiche Angebot gemacht worden war, hatten sich diese noch weniger frei genommen als in den Jahren zuvor – obwohl der gesetzliche Urlaubsanspruch in den USA, je nach Bundesstaat, höchstens fünfzehn Tage beträgt.

"Gefragt, was ihnen wichtig ist", schreibt Christensen in einem Erfahrungsbericht für das Magazin "Fast Company", "nannten unsere Angestellten erst Krankenversicherung und Altersvorsorge – und als drittes unbegrenzte Urlaubstage. Das war ihnen wichtiger als zum Beispiel eine Zahnversicherung oder Weiterbildungskurse."

Keine Sonderlinge

Auf die Frage, warum seine Mitarbeiter, wenn ihnen der Urlaub denn so wichtig sei, keinen Gebrauch vom Angebot ihres Chefs gemacht hätten, meinte Christensen, das Angebot sei seinen Angestellten als Vertrauensbeweis wichtig gewesen. "Nicht Manager oder Personalchefs sind dafür zuständig, dass Mitarbeiter ihre Aufgaben schaffen, sondern die Mitarbeiter selbst – unabhängig davon, wie viel Zeit sie im Büro verbringen."

Die Mitarbeiter der Firma "Mammoth" sind, was ihr Verhältnis zur Arbeit betrifft, keine Sonderlinge – sondern Zeitgenossen wie wir. Wir, die wir uns selbst dafür zuständig fühlen, "unsere Aufgaben zu schaffen", unabhängig davon, wie viel Zeit wir im Büro verbringen. Wir, die wir mit "unseren Aufgaben" und mit "unserer" Arbeit identifiziert sind (was für die Selbstständigen unter uns in noch größerem Maß gilt). Wir, die wir die Identifikation mit "unserer" Arbeit, sprich unsere Selbstverwirklichung im Beruf, als Voraussetzung für ein geglücktes Leben ansehen – wir alle sind des Vertrauens unserer Vorgesetzten würdig.

Die Frage, ob sich ein Bewerber mit seiner potentiell zukünftigen Arbeit zu identifizieren vermag, scheint bei Bewerbungsgesprächen heute nicht selten wichtiger zu sein als dessen fachliche Qualifikation, ganz so als verkauften wir nicht mehr bloß unsere Arbeitskraft – sondern unsere Seele.

Die Identifizierung mit "unserer Arbeit", aus der wir Stolz und Selbstachtung beziehen, geht mit einem Verzicht auf materielle Objekte und materielles Wohlbefinden einher. In unserem Beispiel verzichten jene, für unser heutiges Verhältnis zur Arbeit und zum Genuss repräsentativen "Urlaubsverweigerer", um eines höheren Gutes willen – der Arbeit nämlich und der Aufgaben, mit denen sie identifiziert sind – auf das Objekt "Freizeit" – als seien sie alle von asketischen Idealen durchdrungen.

Entkoffeinierte Sexualität

Askese kann als eine – bewusste oder unbewusste – Haltung des Verzichts auf "weltliche" Genüsse bestimmt werden. In der Sprache der Psychoanalyse als Desinteresse an den Objekten der Außenwelt. "Desinteresse an den Objekten der Außenwelt" ist aber nichts anderes als eine Definition des Narzissmus, den Freud als "eine psychische Ursituation" beschreibt, in welcher "die Außenwelt nicht mit Interesse [...] besetzt und für die Befriedigung gleichgültig"¹ ist.

Im Blogbeitrag "Warum Conchita Wurst nichts mit sexueller Befreiung zu tun hat" hatte ich die Kunstfigur Conchita Wurst als Verkörperung einer körperlosen – frei nach Slavoj Zizek – "entkoffeinierten Sexualität" bezeichnet. Und gefragt, ob es nicht sein könnte, dass sie gerade wegen ihrer Reinheit von sexuellem Begehren zum Symbol der neuen Akzeptanz sexueller Minderheiten werden konnte. Nach dem – unausgesprochenen und unbewussten – Motto: Wenn es erst gelingt, das Sexuelle aus der Sexualität auszutreiben, fällt es uns leicht, sexuell abweichendes Verhalten zu tolerieren.

"Entkoffeinierte Sexualität" scheint auch das verborgene Motto der neueren Diskurse über Sexualität zu sein. Diskurse, in denen Sexualität kaum mehr mit Begehren und mit körperlicher Lust zu tun zu haben scheint, und die sich mehr und mehr in Reden über "sexuelle Identität" erschöpfen –  alternative Identitätsentwürfe, die normierende Zwänge zu dekonstruieren versuchen, mit eingeschlossen.

Aus der Sicht der Psychoanalyse ergibt unser obsessives Interesse an sexueller Identität (das Spielen mit sexueller Identität, die Kritik an normierter sexueller Identität et cetera) einen Zugewinn an Selbstachtung und an Stolz, also an "narzisstischer Lust" – auf Kosten des Interesses an den Objekten des Begehrens, psychoanalytisch gesprochen: auf Kosten von "Objektlibido". Das narzisstische Interesse am Selbst(bild) verdrängt die Lust des Körpers und das Begehren von real existierenden Objekten. Und weil Narzissmus nichts mit Egoismus, aber viel mit Askese zu tun hat, ist die Annahme, dass asketische Ideale die neuen Diskurse über Sexualität genauso dominieren wie unser narzisstisch-asketisches Verhältnis zur Arbeit berechtigt.

"Die komplexe Anstrengung der vollständigen Kopulation"

Narzisstisch-asketische Ideale bestimmen aber nicht bloß unser Reden über Sexualität, sondern auch unseren realen Umgang mit ihr. 2008 ergab eine Studie des "Instituts für Männergesundheit" am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, bei dem 10.000 Männer zu ihrem Liebesleben befragt wurden, dass deutsche Männer deutlich weniger Sex – und deutlich weniger Lust am Sex – hatten als in der Generation davor. Tendenz fallend. Hatten Anfang der 1980er-Jahre Männer der Altersgruppe 18 bis 30 angegeben, alle ein bis zwei Tage mit einer Frau zu schlafen, taten es knapp dreißig Jahre später Männer derselben Altersgruppe nur mehr jeden dritten bis achten Tag. Männer zwischen 31 und 40 gaben 2008 an, alle fünf bis zehn Tage Sex zu haben, Anfang der 1980er-Jahre waren es noch alle drei Tage gewesen. Hatten Anfang der 1980er-Jahre 41- bis 50-Jährige noch alle drei bis fünf Tage Sex, waren es 2008 nur mehr alle zehn bis fünfzehn Tage. Und die 51- bis 60-Jährigen des Jahres 2008 schliefen nur mehr höchstens zwei Mal im Monat mit einer Frau – dreißig Jahre zuvor waren es immerhin alle sechs bis sieben Tage gewesen.

Hauptursache dieses drastischen Lustverlustes ist in den Augen der Hamburger Forscher die Haltung der betroffenen Männer – zur Arbeit. "Wer seine Leidenschaft im Job aufbraucht und schon abends im Bett an die Aufgaben des nächsten Tages denkt, hat den Kopf nun mal nicht frei für Sex."

In dieselbe Kerbe schlägt die Sexualtherapeutin Laurie Watson von der Duke University in North Carolina. "Seine Arbeit" schreibt sie über den typischen, lustlosen, männlichen Zeitgenossen, "ist seine Geliebte. Männer, die leidenschaftlich in ihre Karriere verliebt sind, sublimieren das sexuelle Interesse, das sonst ihren Frauen gelten würde. Es ist die berufliche Anerkennung [...] oder die Beförderung, die sie anturnt."

Männer substituieren ihr sexuelles Verlangen durch den Beruf. Der Torso steht im British Museum.
Foto: Reuters/Dylan Martinez

Watson geht aber noch einen Schritt weiter, und verortet eine andere Ursache für den massiven Lustverlust im Bedürfnis der Betroffenen nach sogenannter "sexuelle Autonomie". Der typische nach "sexueller Autonomie" strebende Mann "möchte über Sex nicht verhandeln – und nimmt daher sein Begehren, buchstäblich selbst in die Hand."

Er masturbiert lieber, statt sich der "komplexe[n] Anstrengung einer vollständigen Kopulation"² zu unterziehen, denn in der körperlichen Liebe fürchtet er, ganz zu recht, nicht bloß seine Autonomie zu verlieren – sondern sich selbst.

Eines haben beide von Watson angeschuldigten Liebestöter – die Identifikation mit der Arbeit und das Bedürfnis nach "sexueller Autonomie" – gemeinsam: Sie sind in hohem Maße narzisstisch motiviert. (Sama Maani, 25.4.2017)

Fortsetzung folgt.

¹ Sigmund Freud, Triebe und Triebschicksale. In ders., Gesammelte Werke, Bd X, Frankfurt am Main 1999, S. 227

² Slavoj Zizek, Ärger im Paradies. Vom Ende der Geschichte zum Ende des Kapitalismus, Frankfurt am Main 2015, S. 115

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