Einnehmendes Wesen, undurchdringliche Gestalt: Heiner Müller, hier 1991 in Wien.

Foto: Matthias Cremer

Auferstehung: Längere Zeit schien es, als habe das Werk des ostdeutschen Dramatikers Heiner Müller (1929–1995) jedes Recht auf eine größere Öffentlichkeit verwirkt. Mit der Verfestigung des Krisenbewusstseins wächst auch die Bedeutung, die man diesem unorthodoxesten aller Brecht-Schüler neuerdings wieder zumisst. Eine soeben veröffentlichte Textkompilation aus dem Gesamtwerk nennt sich Für alle reicht es nicht – Texte zum Kapitalismus. In diesem Zettelwerk wird nicht so sehr der Müller'schen Wortgewalt nachgespürt. In den Fokus rückt, belegt durch zahllose Zitate, der Zeitdiagnostiker. Müller hat vor allem in den letzten Jahren vor seinem Krebstod als gefragter Interviewpartner dem Kapitalismus unbarmherzig die Leviten gelesen.

Dissidenz: Der Boden für Müllers Bemerkungen zum geschichtlichen Gang der Dinge ist genuin marxistisch. Wer da meint, Weltgeschichte sei nicht vor dem Horizont der Befreiung des Menschen von Unterdrückung und Ausbeutung zu verstehen, dem wird eine allfällige Müller-Lektüre wenig nützen. Die eigentümliche Dialektik von Müllers Denken begreift man erst mit Blick auf seine lebensgeschichtliche Situation. Sein ganzer Hass gilt der Allgegenwärtigkeit des Kapitalismus und dessen Verwertungsgesetzen.

Druck: Als DDR-Kulturschaffender wurde Müller, der reisen durfte und Privilegien besaß, von den Gralshütern der Parteilehre höchst misstrauisch beäugt. Die Irrwege des real existierenden Sozialismus, seine Verknöcherung, die Entfremdung der Arbeiter von der Partei, hat Müller vor allem in seinen frühen Stücken aufgezeigt. Er betrachtete Texte wie Der Lohndrücker oder Die Umsiedlerin allen Ernstes als Vorschläge, die helfen könnten, das Bewusstsein für die (historische) Notwendigkeit von Zwangsenteignung und Konsumverzicht in Ostdeutschland zu schärfen.

Freiheit: Frei ist laut Müller niemand, der sein Vertrauen auf die Rechtsordnung der liberalen Demokratie setzt. Die Wirklichkeit ist für ihn "das Unmögliche". Dasjenige, was es mit Blick auf eine künftige klassenlose Gesellschaft abzuschaffen gilt.

Gräuel: Umgekehrt enthält Müllers dichterisches Werk eine lückenlose Abfolge von Gräueln und Bluttaten. Als Theatererfinder ist der eigenwillige Augur ein Adept Michel Foucaults. Von der Trümmerhalde der Geschichte liest er Begebenheiten auf, um die gewaltsame Einwirkung von abstrakten Ideen auf die wehrlosen Körper der Menschen nachzuweisen.

Hader: Das deutsche Unglück resultiert laut Müller aus der Unfähigkeit, eine Revolution nach französischem Vorbild zu entfesseln. In seinen Stücken und Gedichten beklagt er die Versteinerung der Verhältnisse, an der auch der Epochenwechsel von 1990 nichts geändert habe.

Hieroglyphen: Umgekehrt tendiert seine Dichtung – eine der wortgewaltigsten nach 1945 – zur unwandelbaren Fügung. Wie behauene Blöcke ragen seine häufig in Blankvers verfassten Texte aus der Masse der politischen Gebrauchsliteratur hervor. In ihnen hält Müller Zwiesprache mit Gespenstern und Geistern: "ICH HAB ZUR NACHT GEGESSEN MIT GESPENSTERN / Jetzt holt Journaille meinen Schatten heim".

Hoffnung: Nur wer auf die untergegangenen Hoffnungen der Toten setzt und deren Utopien mit frischer Stimmkraft belebt, besitzt eine einigermaßen begründete Aussicht auf Zukunft.

Unglück: Ist das A und das O in der Müller'schen Welt. Gegen den Kapitalismus, die Bestie "mit der Blutbahn der Banken", setzt die in Rätseln redende Sphinx mit der Davidoff-Zigarre auf die Unduldsamkeit der Unterdrückten. Müller stand Anfang der 1990er auf dem Gipfel seines Ruhms. Ein erschöpfter Ratgeber, der immer weniger schrieb, dabei immer frappierender dachte und noch als Akademiepräsident auf die Dritte Welt setzte. Denn: Solange es Herren und Sklaven gebe, "sind wir aus unserem Auftrag nicht entlassen". (Ronald Pohl, 26.4.2017)