Ittoqqortoormiit, die nördlichste Siedlung in Ostgrönland, ist von der nächsten Siedlung 800 Kilometer Luftlinie gen Süden über wilde, vergletscherte Berglandschaften entfernt und liegt immer noch fast 700 Kilometer über den Nordatlantik von Islands Nordküste getrennt – der Ort ist somit einer der entlegensten der Welt.

Ittoqqortoormiit – "Der Platz, wo große Häuser stehen".
Foto: Christoph Ruhsam

Noch vor Sonnenaufgang zieht es mich in die Winterkälte, und unerwartet stehe ich mitten im Friedhof der Siedlung. Mit bunten Plastikblumen und Geschenken der Hinterbliebenen drücken die Inuit Achtung gegenüber dem Leben aus. Kann etwas so Großes wie das Leben einfach verschwinden, zu einem Nichts werden, so wie die Kreuze aus dem hartgefrorenen Boden herausstehen und immer tiefer vom Schnee verschlungen werden?

In Wellen ertönt das klagende Geheul der Grönländer Schlittenhunde, die an Ketten gebunden auf dem Eis der Rosevinges-Bucht ihre Plätze haben. Um Rangkämpfe und Verletzungen bei Bewohnern und Kindern zu verhindern, dürfen nur die jungen Hunde im Ort zwischen den Häusern umhertollen.

Farbenfrohe Plastikblumen und persönliche Gaben für die Toten.
Foto: Christoph Ruhsam
Wegen des Permafrostes können Begräbnisse nur im Sommer stattfinden.
Foto: Christoph Ruhsam

Nachdem die Sonne die über 60 Kilometer südlich des Scorsby Sund liegende Volquart Boon Kyst von den Bergspitzen bis zur Küste hinunter erleuchtet hat, streunen wir ziellos durch den bunten Ort, der mit fast 380 Bewohnern eine vollwertige Infrastruktur besitzt: Nach jedem Schneefall bilden sich neue Wege und bilden ein Geflecht von unterschiedlich breiten Verbindungen zwischen wichtigen Punkten, wie dem Heliport auf einem Hügel oberhalb des Ortes, dem Spital, das nur geöffnet ist, wenn es Kranke gibt, der Polizeistation, kleineren Kiosken und einem Supermarkt, in dem man von Hardware wie Gewehren und Munition über Hausrat und Werkzeug bis hin zu importierten Lebensmitteln alles erhält; zwischen der Kirche, einem Kindergarten und der Schule für alle Kinder bis zum 14. Lebensjahr und einer Sport- und Versammlungshalle.

Nur junge Hunde dürfen im Ort frei herumlaufen.
Foto: Christoph Ruhsam
An der "Hauptstraße".
Foto: Christoph Ruhsam

Die 1924 gegründete Siedlung wuchs organisch über die Jahrzehnte und besteht aus netten, bunten Holzhäusern. Auffallend sind die leerstehenden, deren kaputte Fenster den Schnee ins Innere lassen und langsam verfallen. Seit einigen Jahren kämpft die Gemeinde mit Abwanderung an die Westküste, vor allem in die Hauptstadt Nuuk, in der es sich angeblich besser lebt, da weniger abgeschieden und häufiger von Versorgungsflügen beliefert. Das Versorgungsschiff kommt nur einmal im Jahr im August nach Ittoqqortoormiit und liefert alles, was die Bewohner für die nächsten zwölf Monate benötigen.

Selbst bei minus 15 Grad Celsius tollen die Kinder vor dem Kindergarten herum.
Foto: Christoph Ruhsam
Moschusochsen werden mit Hundeschlitten gejagt.
Foto: Christoph Ruhsam

Flugzeug und Hubschrauber sind teuer und auf den Personentransport ausgerichtet. Die Wetter- und Kommunikationsstation liegt auf einem Felshügel über dem Flusstal, dessen Existenz im Winter nur durch eine davor liegende Senke in der Landschaft angedeutet ist, die den Ort in zwei asymmetrische Teile teilt. Flüssiges Wasser gibt es im langen Winter auf 71 Grad nördlicher Breite nur, wenn es in heimischen Öfen aus Schnee geschmolzen wird. Die Inuit leben in gut geheizten Räumen, um den harten Wintertemperaturen zu trotzen. Manche Bewohner holen sich auch Wasser von einer zentralen Ausgabestelle und schleifen es an Leinen hinter sich nach Hause. Kanalisation gibt es wegen der tiefen Temperaturen keine. Daher wird auch im Guest House, in dem wir unterkommen, das WC nur für "vom Körper natürlich Produziertes" verwendet, und das benutzte Klopapier landet in einem Müllsack.

Die Volquart Boon Kyst in über 60 Kilometer Entfernung bildet das Südufer des Scorsbysunds.
Foto: Christoph Ruhsam
Kinder wachsen frei auf.
Foto: Christoph Ruhsam
Verlassene Häuser sind stille Zeugen einer Umsiedlungspolitik der grönländischen Regierung in größere Orte.
Foto: Christoph Ruhsam
Abendstimmung über dem Scorsbysund.
Foto: Christoph Ruhsam

Das felsige Ufer der Walrossbucht bietet den Bewohnern direkten Zugang zur Öffnung des Scorsby Sunds in den Atlantischen Ozean und ist die meiste Zeit des Jahres mit Festeis bedeckt. Den Jägern dient die Bucht als erweitertes Wegesystem für Hundeschlitten und Schneescooter zu den nicht mehr dauerhaft bewohnten Nebenorten und bis zur Eiskante, wo die Selbstversorgung nach den Prinzipien heimischer Jagdgemeinschaften erfolgt. Die Jäger des Dorfes dürfen jährlich eine pro Tierart genau festgelegte Quote für den Eigenbedarf erlegen. Davon werden auch die Hunde ernährt und aus den Fellen die traditionellen Kleidungsstücke – wie Eisbärenfellhosen – genäht. Wir werden während der Schlittenexpedition unsere Hauptmahlzeiten auch aus dieser Quelle beziehen und blicken dem Menü etwas bange entgegen.

Die Jagdgemeinschaft darf für die Selbstversorgung ein streng kontrolliertes Kontingent an Wildtieren erlegen.
Foto: Christoph Ruhsam
Kommunikation ist wichtig für den Anschluss an die weite Welt.
Foto: Christoph Ruhsam

Nach Schneefall und Stürmen verschwindet alles in der Unberührtheit der hocharktischen Winterlandschaft. Die ersten Jäger bahnen sich neue Wege in ähnlichen Bahnen, es sind jedoch nie die gleichen Wege. Es fehlt an festen Ankerpunkten, um permanente Hinweise anbringen zu können. Zwischen den Häusern können nach Schneeereignissen die Wege völlig verweht und ganze Häuser unter Wechten begraben sein.

Nach heftigen Schneefällen wird schweres Gerät benötigt, um die Verbindungswege wieder benützbar zu machen.
Foto: Christoph Ruhsam
Ein weiterer Schneesturm fällt über den Ort herein.
Foto: Christoph Ruhsam

Sobald es das Wetter zulässt, bahnen sich die Bewohner, die den ersten Schritt nach draußen tun, neue Wege. Nur an den zentralen Ortsteilen um die Kirche und den "Marktplatz" mit Supermarkt und Post können große Bagger in die meterhohen Schneeberge schluchtartige Wege graben und ganze Häuser oder sogar die Kirche wieder freilegen. Der Mesner sperrt uns mit Begeisterung die Kirche auf und beginnt die Kerzen im Altarraum zu entzünden. Wir sitzen in Andacht auf den Bänken und nehmen die Stimmung in uns auf, bis der Pfarrer in Winterkleidung und Anorak uns begrüßt und die Orgel zu spielen beginnt. Wir fühlen uns herzlich empfangen und drücken unsere Freude und Achtung aus.

Die Kirche wurde 1928 von den Inuit in Eigenleistung erbaut.
Foto: Christoph Ruhsam
Altarkerzen, uns zu Ehren entzündet.
Foto: Christoph Ruhsam

Danach klettert der Mesner über die Schneewechte wieder auf das steile Kirchendach und beginnt mit einer kleinen Schaufel den Schnee hinunterzuwerfen. Die Schneelage ist aber derart mächtig, dass wir uns fragen, wie lange er daran schaufeln wird. Später beobachten wir, wie ihm der große Bagger zu Hilfe kommt und die Kirche in Kürze von der dachhohen Schneewand befreit. Als einzige Gäste im Ort nehmen wir eine exotische Stellung ein und dürfen uns sicher sein, dass wir aus vielen Fenstern beobachtet werden. Man öffnet für uns das kleine lokale Museum und zeigt uns die Ausbildungsstätte für Inuit-Künstler, in der Jugendliche in Handwerksfähigkeiten geschult werden und ausgezeichnete Gegenstände zum Verkauf anbieten.

Unvorsichtig ist, wer das Fenster über Nacht auch nur einen Spalt geöffnet lässt.
Foto: Christoph Ruhsam
Schwerer Himmel über Ittoqqortoormiit.
Foto: Christoph Ruhsam

Wir sind überrascht, dass wir hier ständig mit so viel Interessantem konfrontiert werden, dass uns die Tage viel zu schnell vergehen. Nach einer Sturmnacht, in der selbst der kleinste Spalt der Fenster mit festem Eis zufriert, beginnen wir unsere Hundeschlittenexpedition. (Christoph Ruhsam, 28.4.2017)

Fortsetzung folgt.