Leipzig – Ein Blick ins Gehirn verrät bereits vor Beginn der Volksschule mit hoher Wahrscheinlichkeit, ob ein Kind später an einer Lese-Rechtschreibschwäche leiden wird. Wissenschafter am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften haben mithilfe von Hirn-Scans im Vorschulalter dabei eine Trefferquote von 75 Prozent erreicht. Die Forscher empfehlen, diese Ergebnisse zur Früherkennung einer Legasthenie bei Kindern zu nutzen.

Rund jedes 20. Kind hat eine Lese-Rechtschreibschwäche: Das entspricht etwa einem Kind pro Schulklasse. Trotz normaler Intelligenz fällt es Kindern mit einer sogenannten Legasthenie deutlich schwerer als ihren Klassenkameraden, Wörter richtig zu lesen und zu schreiben. "Zwar spielen Umweltfaktoren wie der Bildungsstatus der Eltern eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Lese- und Schreibfähigkeiten eines Kindes", erklärt Michael Skeide, Hauptautor der im Fachjournal "Brain" veröffentlichten Studie. "Mehrere Studien haben aber gezeigt, dass die Ursache für Legasthenie auch in den Genen liegt."

Strukturelle Gehirnunterschiede

Bei 141 Kindern untersuchten Skeide und sein Team mithilfe eines MRT-Scans die Ausprägung dieser Gene in bestimmten Hirnregionen, die beim Lesen- und Schreiben lernen eine wichtige Rolle spielen. Dafür machten sie MRT-Aufnahmen von Kindern in der Altersgruppe Klasse 4 bis 8 sowie Kindergarten bis Klasse 1. Sie entdeckten dabei, dass Kinder mit einer bestimmten Variante des Gens NRSN1 – ein Gen, dass für die Entwicklung der Nervenzellen wichtig ist – strukturelle Unterschiede in einer Hirnregion aufweisen, die Experten als Visual Word Form Area bezeichnen. Sie ist für das Erkennen von Buchstaben und Wörtern zuständig. Schon im Kindergarten, bevor Kinder das Lesen überhaupt lernen, heben sich hier Kindern mit und ohne spätere Legasthenie voneinander ab.

"Je früher eine Legasthenie erkannt wird und die betroffenen Kinder eine entsprechende Förderung erhalten, desto größer ist die Chance, dass die Ausprägung der Störung deutlich abgeschwächt werden kann", sagt Skeide vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften. Screening-Verfahren kämen jedoch meist erst am Ende der zweiten Klasse zum Einsatz, wenn die Schwächen beim Lesen und Schreiben bereits offensichtlich sind. Für die Kinder bedeutet das Frust: Ihr Selbstbewusstsein und die Motivation, zu lernen, leiden. "Im Vorschulalter ist das Gehirn noch sehr plastisch", meint Skeide. "Hier können wir mit der richtigen Förderung entscheidende Weichen stellen." (red, 28.4.2017)