"Heartstone", ein Film über eine junge Liebe, ist der Wettbewerbsbeitrag des isländischen Regisseurs Gudmundur Arnar Gudmundsson.

Foto: Crossing Europe

Linz – Wenn es in Island regnet, dann sind die dunkelgrünen Berge von dichtem Nebel überzogen. Das Fischerdorf, in dem Thor und Christian sich den Sommer vertreiben, besteht aus einer losen Ansammlung von Hütten. Hier kennt jeder seinen Nächsten wie sich selbst – unter den Erwachsenen reagiert man darauf mit Angst vor übler Nachrede, unter den Kindern mit einer ungezwungenen Nähe.

Thor, der mit zwei älteren Schwestern bei der Mutter aufwächst, und Christian, der seinem gewalttätigen Vater ausgesetzt ist, verbindet eine enge Freundschaft. Es ist eine Verbundenheit, die ihnen Schutz bietet vor einer ihnen noch unbekannten Welt – vor allem jener der eigenen Gefühle. Doch gerade von dieser Gefühlswelt droht die größte Gefahr. Denn während Thor sich in das Nachbarmädchen verliebt, entdeckt Christian eine besondere Form der Zuneigung für den Freund.

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Heartstone, der Wettbewerbsbeitrag des isländischen Regisseurs Gudmundur Arnar Gudmundsson beim Crossing-Europe-Filmfestival, erzählt vom Erwachsenwerden als Ausnahmezustand. Doch dafür ist es nötig, zunächst die Normalität zu beschreiben: Fischefangen am Hafen, Abhängen am Schrottplatz, Herumalbern mit den Mädchen und Kampfposen unter Burschen. Gudmundsson nimmt sich viel Zeit für solche Szenen, die den Boden aufbereiten für das Kommende und Verhängnisvolle, das sich so langsam zusammenbraut wie der nächste Regenschauer. Und er zeigt, wie Jugendliche auf sich selbst gestellt sind, wenn sie ihren Platz in einer Gesellschaft suchen, in der die Elterngeneration ihren Aufgaben nicht gewachsen ist.

Abseits gängiger Konvention

Für Crossing Europe, eines der wichtigsten Filmfestivals des Landes, sind Produktionen wie Heartstone charakteristisch. Bereits seit vielen Jahren sind in Linz Filme als Österreichpremieren zu sehen, die sich gängigen Konventionen und Vorgaben des Arthouse-Kinos entziehen und ohne die übliche PR-Begleitmusik großer Namen für sich selbst sprechen. Es sind Filme, die nicht zu einer Leistungsschau antreten, sondern sich bestenfalls wie unterschiedliche Stimmen ergänzen. Arbeiten, die sich gerade deshalb besonders dafür eignen, das europäische Kino in seiner Vielfalt zu vermessen.

Die Umstände, unter denen sich am anderen Ende des Kontinents, nämlich in Moldawien, die 15-jährige Ana dem Erwachsenwerden zu stellen hat, könnten im Vergleich zu Thor und Christian nicht größer sein. Ana Felicia Scutelnicu begleitet in Anishoara ihre Protagonistin Ana in vier Kapiteln und semidokumentarischen Bildern durch die Jahreszeiten. Zu Beginn werden im Sommer die Melonen geerntet; im Herbst sorgt ein an der jungen Frau interessierter älterer Deutscher, der sich als Ornithologe im Dorf eingenistet hat, für Unruhe. Der Winter beschert Ana ihre erste Reise ans Meer, und der Frühling bringt einen radikalen Entschluss. Eingebettet zwischen den Hügeln liegt Anas Dorf, die einzige Verbindung zur Außenwelt ist ein knatternder, gelber Bus, während die junge Frau sich in dieser ausschließlich männlich dominierten, engen Welt behaupten muss.

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Nicht alles in Scutelnicus Abschlussarbeit an der Berliner Filmakademie wirkt stimmig, etwa wenn die Kamera sich wiederholt in die Schönheit von Landschaft und Protagonistin regelrecht zu verlieben scheint. Doch was Anishoara bemerkenswert macht, sind jene Momente, in denen die Erzählung stillsteht und die wie plötzliche Leerstellen anmuten: eine abgebrannte Hütte am Strand als Unterschlupf, das gezeichnete Gesicht von Anas Großvater, das scheinbar ewig anhaltende Hundegebell.

Fragile Konstruktion

Die erstaunlichsten Coming-of-Age-Filme, die in den verschiedenen Programmschienen laufen, stammen jedoch aus Belgien und Frankreich. Die belgische Filmemacherin Fien Troch geht dabei in ihrer Studie über Jugendliche in einer Kleinstadt am weitesten. Home erzählt nach einem wahren Fall die Geschichte des 17-jährigen Kevin, der nach seiner Entlassung aus der Jugendstrafanstalt bei seiner Tante einzieht und sich mit seinem Cousin Sammy anfreundet. Die fragile Konstruktion beginnt zu kippen, als Sammys Schulfreund John, der allein bei seiner Mutter wohnt, den häuslichen Missbrauch nicht mehr erträgt – und zur Tat schreitet.

Home schildert das Versagen der Institutionen, ohne direkt Anklage zu erheben: die Familien und die Schulen, die alten Systeme mitten in Europa, sie sind einer Erosion ausgesetzt, ohne neue Modelle anbieten zu können. An der Realität geschulte Filme wie Heartstone und Home zeigen, dass das, was früher als dysfunktionale Familie galt, längst zum Alltag geworden ist. Doch wohin mit der so oft damit einhergehenden Zukunftsangst, der Aggression und der Wut?

Farce mit Ironie

Vielleicht ist es also kein Zufall, dass der formal radikalste Beitrag zu diesem Thema seine Lehre aus der Bibel zieht: Le Fils de Joseph des Franzosen Eugène Green ist eine Paraphrase von der Geschichte der Heiligen Familie. Vincent, ein Teenager aus Paris, will darin endlich seinen Vater kennenlernen, dessen Existenz seine Mutter nicht preisgibt. Green, ein Solitär des französischen Kinos, versieht diese Geschichte mit der ihm eigenen Ironie: Der sich verleugnende Vater, den Mathieu Amalric als protzigen Verleger gibt, hat am Ende gegen Josef, Maria und den auf die göttliche Stimme hörenden Vincent das Nachsehen – aber nur, weil es sich bei diesem Familienglück um eine grandiose Farce handelt. (Michael Pekler, 28.4.2017)