Erdoğan und Putin nehmen breitbeinig sitzend Machtpositionen ein.

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Titelseite des türkischen Boulevardblatts "Posta". Es berichtete diese Woche über den Bein-Vorfall. Links sieht man den französischen Botschafter und weitere Diplomaten, rechts eine der Raufereien im Parlament. Die Zeitung wollte damit auf die doppelte Moral aufmerksam machen: Beine übereinanderschlagen ist verboten (yasak), herumwatschen im Plenum steht jedem frei (serbest/Freiheit).

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Ankara/Athen – Der Anlass war schon sonderbar genug: Das türkische Parlament, das auf Wunsch des Staatschefs gerade per Volksentscheid entmachtet worden war, trat zu einer Sondersitzung zusammen, um seiner ersten Versammlung vor 97 Jahren zu gedenken. Doch als Charles Fries, Frankreichs Botschafter in Ankara, auf der Gästetribüne des Parlaments eine Saaldienerin auf sich zutreten sah, traute er seinen Augen und Ohren nicht. Der Botschafter möge doch bitte seine Beine nicht übereinanderschlagen, bedeutete ihm die Dame. Unislamisch ist das nämlich, und in der Türkei von Staatspräsident Tayyip Erdoğan weht nun ein anderer Wind.

Ebenso betrüblich wie nichtig sei diese Angelegenheit, hieß es später aus der französischen Botschaft. Doch es ist das erste Mal, dass das türkische Protokoll Diplomaten aus dem Abendland wegen ihrer Sitzhaltung maßregelt. Er könne sich an keinen solchen Vorfall erinnern, sagt der Botschafter eines anderen EU-Mitgliedstaates. Charles Fries, ein schlanker hochgewachsener Karrierediplomat, war auch nicht der einzige, der am vergangenen Sonntag im Anzug auf der Besuchertribüne des Parlaments saß und seine Beine übereinandergeschlagen hatte.

Schuhsohlenproblem

Das Problem dabei sind aus islamischer Sicht die Schuhe. Oder schlimmer noch: die Schuhsohle. Sie dem Gegenüber zu zeigen, gilt als ebenso unhöflich wie unsittlich. Schuhe sind für gläubige Muslime der Inbegriff der Unreinheit. Aber dann wiederum können sie auch schnell zum Fetisch werden: In seinem Beitrag im "New Yorker" im Oktober vergangenen Jahres über die Bewegung des in den USA lebenden türkischen Predigers Fethullah Gülen gab Dexter Filkins eine bizarre Anekdote wieder: Ein Ritual unter höher stehenden Anhängern Gülens soll darin bestehen, die nackten Füße eines Mitbruders gegen seinen Willen zu küssen. In einem Fall soll gar ein Schuh Gülens bei einer solchen kleinen Versammlung gekreist sein; seine Anhänger tranken Wasser aus dem Schuh, um ihre Verehrung zu zeigen.

Machtpositionen einnehmen

Alles eine Kulturfrage. Denn die typische Sitzposition von Tayyip Erdoğan oder Wladimir Putin mit gespreizten Beinen, das Gemächt präsentierend, die Arme auf den Sitzlehnen ruhend, wirkt im Westen wiederum bisweilen vulgär und machohaft. Tatsächlich aber geht es um die Macht. "Je mehr Platz ein Mensch einnimmt, um so höher ist der Status, den er sich zumisst oder den er signalisieren möchte", erklärt die Wiener Managementberaterin Barbara Eichberger, eine Trainerin für Körpersprache und nonverbale Kommunikation. Es gilt: Je breiter, je stabiler eine Sitzhaltung, desto höher der Rang.

Die Beine übereinanderzuschlagen kann dementsprechend weniger Selbstvertrauen und einen niedrigeren Status bedeuten, so sagt die Expertin für Körpersprache. Doch die Sitzposition mag genauso gut individuelles Wohlbefinden oder Konzentration ausdrücken. Wer die Beine übereinanderschlägt, schafft Platz zur Ablage eines Zettelblocks, auf dem man sich Notizen machen kann.

Wie auch immer die Stimmung war, in der sich der französische Botschafter und seine Kollegen auf der Tribüne gerade befanden: Das türkische Parlament, unten im Plenum, hatte einmal als Hort der säkularen türkischen Republik begonnen. Das Frauenwahlrecht führte Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk noch vor Frankreich und Italien ein. 18 Frauen zogen 1935 als Abgeordnete in die Große Nationalversammlung ein – ohne Kopftuch und im Rock und, wenn sie saßen, auch mit übereinandergeschlagenen Beinen wie ihre männlichen Kollegen. (Markus Bernath, 29.4.2017)