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Der Autor Clemens Berger erinnert sich an seine Kindheit und eine Zeit vor den mobilen Telefonen: "Ich kannte alle Nummern meiner Freunde und meiner Familie auswendig, ich weiß sie heute noch, und wenn ich einen meiner Freunde nicht zu Hause am Telefon erreichte, rief ich in unserem Lieblingslokal an."

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Berger: Was da ist, um zu unterhalten, zu bilden oder zu berühren, sollte allen zugänglich sein.

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Als ich klein war, hing unser Telefon an einer Wand im Wohnzimmer. Um das sogenannte Freizeichen zu bekommen, musste man einen Knopf drücken. Ich höre es noch immer knacken – und die schrillen Geräusche der Wählscheibe danach. Waren meine Großeltern nebenan am Telefon, war unseres tot, und umgekehrt. Ich kannte alle Nummern meiner Freunde und meiner Familie auswendig, ich weiß sie heute noch, und wenn ich einen meiner Freunde nicht zu Hause am Telefon erreichte, rief ich in unserem Lieblingslokal an. War er auch dort nicht, musste ich mich aufs Fahrrad schwingen und dorthin radeln, wo ich ihn vermutete. Meistens trafen wir einander. Wir hätten uns jedenfalls nicht träumen lassen, dass es etwas wie SMS oder Whatsapp zu verschicken gäbe, geschweige denn, dass in ein paar Jahren alle jederzeit ein Telefon und einen Computer bei sich trügen.

Das Fernsehgerät im Wohnzimmer war dunkelbraun und so schwer, dass es für einen Gewichtheber erschaffen worden zu sein schien. An ihm war ein Kästchen mit acht Schaltern angebracht, aber wir drückten bloß 1 und 2, für FS1 und FS2, die beiden Sender des Österreichischen Rundfunks. (So viel zum Realsozialismus.) Wollte man den Sender wechseln oder die Lautstärke verstellen, musste man aufstehen und zum Fernsehgerät gehen. Das Fernsehprogramm studierten wir in der Zeitung, sodass ich jedes Mal rechtzeitig auf dem Sofa saß, um Knight Rider, MacGyver oder Fußball zu sehen.

Als meine Eltern eines Tages verkündeten, auch wir würden demnächst Kabelfernsehen bekommen, war ich mehr als aufgeregt. Ich war begeistert. Ich dachte, Kabelfernsehen bedeutete, jederzeit alles sehen zu können, was man sehen wollte. Ich war bitter enttäuscht, die Wahrheit über das Kabelfernsehen zu entdecken. Und die Wahrheit über unser schweres Fernsehgerät: Wir hätten mehr Programme empfangen können, allein der Apparat hatte für nicht mehr als acht Platz, was noch immer sechs zusätzliche Sender waren, deutsche natürlich. Aber wann immer nun auf einem der neuen Sender ein Film lief, auf den ich mich gefreut hatte, verfluchte ich die ständigen stupiden Werbeunterbrechungen. Das war nicht das Versprechen, das in meinem Kopf genistet hatte. Das war nicht die Freiheit, die ich mir vorgestellt hatte.

Im Netz auf der Jagd

Als ich nicht mehr klein war, fand ich mich nicht als Fußballstar, sondern als Writer in Residence auf dem Campus der Universität von Bowling Green in Ohio wieder. Es war entsetzlich kalt, die Niagarafälle etwas weiter im Norden waren eingefroren, ich saß an einem großen Roman und wollte nicht ständig nur schreiben, lesen oder im Fitnessstudio schwitzen. Also meldete ich mich bei Netflix an. Einen Augenblick lang wähnte ich, mein Kindheitstraum wäre in Erfüllung gegangen. Für wenig Geld könnte ich all die Filme, Serien und Dokumentationen sehen, die ich sehen wollte, und zwar wann immer ich sie sehen wollte. Die Erfinder, dachte ich, ohne es jemals überprüft zu haben, müssten in meinem Alter sein und meine Träume gehabt haben, als sie jung waren – auch wenn sie höchstwahrscheinlich unter mehreren Sendern hatten wählen können.

Natürlich wurde der Traum enttäuscht; der Kapitalismus funkte dazwischen. Es gibt nicht bloß einen Streamingdienst, es gibt mehrere, sie konkurrieren. Man kann nicht aus allem wählen, was es gibt, wegen von Land zu Land unterschiedlicher rechtlicher Schranken oder weil eine Produktion einen exklusiven Deal mit einem bestimmten Anbieter oder gar keinen hat, weswegen wir auf DVDs verwiesen werden, die wir kaufen oder leihen können, oder uns im Netz auf die Jagd nach illegalen Sehmöglichkeiten machen müssen. Verorteten wir zudem das Angebot im Atlas, könnte es scheinen, als gäbe es keine Filme außerhalb Europas und der Vereinigten Staaten. Stellen wir uns, nur für einen Moment, einen Streamingdienst in einer freien Gesellschaft vor, also in einer nicht vom Kapital diktierten Gesellschaft, der es nicht um das Generieren von Profiten und Dividenden für Aktionäre ginge.

Vielleicht müsste man einen kleinen Beitrag zahlen, vielleicht aber auch etwas anderes tun, etwa einen Schauspieler oder eine Schauspielerin, der oder die zufällig für ein spesenloses Casting in der Nähe ist, auf der Couch übernachten lassen, vielleicht müsste man einmal monatlich oder jährlich die Straße kehren oder jemandem etwas beibringen, das man selbst gut kann. Jedenfalls hätte man Zugang zu allem, was weltweit produziert wird. Und die Produzenten, also alle, die an dem Film, den man gerade sieht, beteiligt sind, würden nach Aufrufen, Bewertungen oder einem anderen, noch zu findenden Schlüssel vergütet werden. Wäre Geld im Spiel, flösse der Gewinn zurück in neue Produktionen, zu Regisseurinnen oder Schauspielern – oder in die Straßenreinigung oder Gesundheitsvorsorge, sollte dort etwas gebraucht werden. Ist es nicht merkwürdig, dass wir uns viel eher das Ende der Welt vorstellen können als das Ende einer Gesellschaft, in der das, was wir auf unseren Bildschirmen sehen, für private Gewinne produziert wird? Warum sehen wir denn ständig den Untergang der Welt in der einen oder anderen Form, aber nie den Versuch, eine freie Gesellschaft mit anderen Produktionsverhältnissen zu erschaffen?

Wir lieben Roboter 6

Ich glaube nicht, dass mein Kindheitstraum der Traum eines privilegierten weißen Kindes aus dem Westen war. Viel eher war er der intrinsische Traum der Kon stellation selbst. Was da ist, um zu unterhalten, zu bilden oder zu berühren, sollte allen zugänglich sein. Das wäre zwangsläufig auch im Interesse derer, die etwas produzieren, um zu unterhalten, zu bilden oder zu berühren. Natürlich würde eine neue Form des allgemeinen Zugangs auch neue Formen kollektiven Sehens zeitigen, wenn man nachher über das spricht, was man eben gesehen hat, wie man gemeinsame Erlebnisse genießt und diskutiert. Aber keine Sorge: Sie dürften noch immer allein oder mit Freunden im Wohnzimmer, auf dem Sofa oder im Bett schauen. Dieser Kommunismus will Ihnen nicht den Laptop oder das Recht auf Einsamkeit nehmen.

Unlängst sah ich auf Netflix Werner Herzogs neuen Film Lo and Behold: Reveries of the Connected World, eine Dokumentation über den Beginn, die Träume und die dunklen Seiten des Internets. Darin lernen wir einen jungen Wissenschafter kennen, der sich mit künstlicher Intelligenz befasst. Sein Team hat Roboter konstruiert, die selbstständig ge geneinander im Fußball antreten. Sie erinnern an große Konservendosen, sind vielleicht zwanzig Zentimeter hoch und flitzen auf Rädern, die sich in alle Richtungen bewegen können. Sie verfügen über Sensoren und eine Vorrichtung zum Schießen. Gibt es einen Freistoß, spielen sie zuerst alle möglichen Varianten durch, ehe sie sich für eine entscheiden und tatsächlich loslegen. Sie lernen aus Fehlern, das heißt: Sie begehen keinen Fehler ein zweites Mal. Und sie sind miteinander verbunden: Lernt ein Roboter, lernen alle anderen gleichzeitig auch. Trotzdem ist da Roboter 6, der unerklärlicherweise besser spielt als alle anderen.

Im Jahr 2050, sagt der Wissenschafter, sollten sie in der Lage sein, den Fußballweltmeister zu schlagen. Moment: Wenn sie dann noch immer so flink und klein wären, müssten die Menschen nur über die "Köpfe" der Roboter passen, um in Tornähe zu kommen und relativ einfach zu treffen. Andererseits wären die Roboter so schnell und intelligent, dass sie beinahe jedes Mal – jedes Mal? – träfen, wenn sie sich in Ballbesitz befänden. Was wiederum bedeutete, sie träfen jedes Mal, wenn sie ein Tor bekämen. Schön, sagt Herzog, als der junge Wissenschafter Roboter 6 in die Kamera hält. Ja, sagt der junge Mann strahlend, wir lieben Roboter 6.

Als ich klein war, träumte ich nicht davon, gegen Roboter Fußball zu spielen. Aber vielleicht wird Roboter 6 eines Tages eine gigantische Blase platzen lassen. Wer sollte denn wie viel bezahlt bekommen, wollte Real Madrid ihn verpflichten? Wer würde mit wem Werbeverträge abschließen? Nach dem Spiel duschen müsste Roboter 6 jedenfalls nicht. Vielleicht gäbe ein intelligenter Ro boter einen famosen Schiedsrichter ab. Er wäre schwer zu beleidigen. Aber höchstwahrscheinlich ist es an uns, jene Träume zu entdecken, die unsere Technik und das Netz der Gesellschaft selbst bevölkern. Und lauter von einer freien träumen. Nicht nur mit Smartphones. (Clemens Berger, Album, 29.4.2017)