Einigkeit. Einigkeit. Einigkeit. Wie ein Mantra brachten die Staats- und Regierungschefs und die beiden EU-Präsidenten Donald Tusk und Jean-Claude Juncker diesen Begriff beim Brexit-Sondergipfel in Brüssel immer wieder in ihre Wortmeldungen ein, sowohl hinter den verschlossenen Türen des Verhandlungsraumes wie auch öffentlich bei ihren Pressekonferenzen: als Beweis für Erfolg.

Die Geschlossenheit der 27 EU-Staaten sei "beeindruckend" gewesen, und vor allem "nicht nur Fassade", betonte der Kommissionschef. Tusk erzählte, dass man nur vier Sitzungsminuten gebraucht habe, um die Leitlinien für die Scheidungsverhandlungen mit dem Briten per Akklamation zu beschließen. Ein Weltrekord der Gemeinschaftspolitik, den es so nie mehr wieder geben wird.

Erbärmliche Lage

Bravo, großartig, möchte man meinen. Endlich ziehen die EU-Staaten mal an einem Strang, streiten in einer wesentlichen politischen Frage für die Union nicht ewig lang und ohne Konsensfindung herum! Aber diese Erkenntnis markiert eben zugleich die Tragödie, die erbärmliche Lage, in der sich die Gemeinschaft im sechzigsten Jahr ihres Bestehens befindet. Einig sind sich die sonst von Populisten und nationalen Egoismen getriebenen Regierungschefs nur dann, wenn es um den Austritt eines wichtigen Mitgliedslandes geht.

Bei anderen wichtigen politischen Problemen, ob in der Flüchtlings- und Migrationspolitik, der gemeinsamen Energiepolitik oder in der koordinierten Finanz- und Wirtschaftspolitik und dem Ziel, die Arbeitslosigkeit zu senken, gelingt dies seit vielen Jahren nicht einmal im Ansatz. Wie man seit Monaten am Beispiel Türkei sieht, ist die Union auch nicht in der Lage, eine klare Linie gegen Menschenrechtsverletzungen und Demokratieverhöhnung in Ankara zu finden. Nur dann, wenn jemand aus der Union austritt, bei der EU-Dekonstruktion also, rücken die EU-27 auf einmal zusammen.

Mehr Nachteile als Vorteile

Aber auch das ist – bei Lichte besehen – nicht unbedingt überzeugend. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel warnte die Regierung in London und die britischen Bürger davor, sich in Bezug auf den Brexit irgendwelchen Illusionen hinzugeben, sie könnten vom EU-Austritt einseitig profitieren. Das werde es nicht spielen, ein Nichtmitglied hätte mehr Nachteile als Vorteile.

Das ist ein richtiger Befund von Merkel. Sie hätte besser aber in Richtung der 440 Millionen EU-Bürger dazusagen sollen, dass dies auch für sie gilt: Macht Euch keine Illusionen! Die nach dem Brexit verbleibende Gemeinschaft wird nicht stärker aus der Scheidung von den Briten hervorgehen, sondern schwächer. Das gilt in sicherheitspolitischer Hinsicht – militärisch, bei der Terrorbekämpfung bis hin zum Schutz der Außengrenzen – wie vor allem beim EU-Budget. Mit Großbritannien verliert die Union die zweitgrößte Volkswirtschaft nach Deutschland, einen bedeutenden Nettozahler.

Man muss nicht Wirtschaft studiert haben um zu begreifen, dass dies für die EU-27 Verluste und Konsequenzen bedeutet. Fairerweise hat der österreichische Bundeskanzler Christian Kern auf diesen negativen Begleiteffekt des Brexit hingewiesen. Unverdrossen forderte er dennoch im Chor mit heimischen Politikern, dass die Rechnung für Österreich, die EU-Beiträge, nicht größer werden dürfen. Das werde man zu verhindern wissen.

Illusion

Das ist eine schöne Illusion. Denn selbst wenn man beim nächsten EU-Budgetrahmen die Förderungen für die Osteuropäer zusammenstreicht, wird übrig bleiben, dass die Nettozahler bei den EU-27 mehr zahlen müssen als bisher mit dem EU-Mitgliedsland Großbritannien. Das kann als gesichert angenommen werden.

So wie der Brexit in seinen politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen bei der EU-27 bisher krass unterschätzt wird. Die Briten mögen unangenehme Partner gewesen sein, die vieles blockierten, ihre Eigenheiten auslebten. Aber das Vereinigte Königreich, die Atommacht mit Sitz im UN-Sicherheitsrat, das Land der Weltsprache Englisch, das über jahrhundertelange globale Erfahrung verfügt, stand ebenso für Weltoffenheit, die sie in die Gemeinschaft einbrachte; London brachte eine vernünftige Skepsis in den traditionellen bürokratischen Betrieb in Brüssel ein, wirbelte manches auf.

Das alles wird uns in der Restgemeinschaft bald sehr fehlen, die auch nicht den Eindruck macht, sie sei sehr dynamisch. Wenn die Brexitverhandlungen erst einmal weiter gediehen sind, dann wird sich bald zeigen, ob der Schlachtruf "Einigkeit!" bei den EU-27 hält, was er verspricht. Viel wahrscheinlicher ist, dass dann die Spannungen zwischen Ost- und Westeuropa, in der Migrationspolitik wie beim Euro, zwischen Nord und Süd, kleinen und großen Staaten erst richtig losgehen werden. Stichwort EU-Reform: Alle reden davon, wie nötig und dringend eine solche wäre. Aber es gibt derzeit nicht den geringsten Ansatz dafür, dass eine Reform und ein Ausbau der Gemeinschaft im Konsens möglich wären. (Thomas Mayer, 29.4.2017)