Brüssel/Wien – Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) tritt dafür ein, "EU-Gelder" an die Türkei vorerst einmal nicht auszuzahlen. Das berichtet die Tageszeitung "Kurier" in ihrer Sonntagsausgabe. Demnach sprach sich der Kanzler am Rande des EU-Brexit-Sondergipfels in Brüssel dafür aus, "die Vorbeitrittshilfen der EU in Höhe von rund 4,5 Milliarden Euro einzufrieren". Diese Summe ist von 2014 bis 2020 eingeplant.

"Wir brauchen jetzt sehr rasch eine Lösung und keine Rechthaberei", wurde Kern im "Kurier" zitiert. Der Kanzler verwies darauf, dass er bereits im August vergangenen Jahres den Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei und eine Neuordnung der Beziehungen zu Ankara gefordert habe. "Das ist heute Regierungsposition." Kern untermauerte seine Haltung gegenüber Ankara mit einem Argument: "Die demokratiepolitische Entwicklung der Türkei ist inakzeptabel. Der Bruch rechtsstaatlicher Prinzipien, die Verfolgung von Journalisten, kann bei einem Beitrittskandidaten nicht hingenommen werden."

Er verlangte rasch eine Antwort der EU auf die neue Lage nach dem Verfassungsreferendum. "Spätestens bis zum Türkei-Gipfel vor dem Sommer muss es eine Lösung für die künftige Kooperation zwischen der EU und der Türkei geben", kündigt der Kanzler an. "Es geht schließlich um die Glaubwürdigkeit der EU." Dazu gehöre auch, dass die EU mit ihrem Budget verantwortungsvoll umgehe.

Kern warnte aber davor, die Türkei-Diskussion emotional zuzuspitzen und zu einem Konflikt auswachsen zu lassen. Dass es Kooperationsmöglichkeiten gebe, zeigt das Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei. Der Pakt funktioniere ja, betonte der Kanzler. Jetzt sei für ihn jedenfalls "der richtige Zeitpunkt, eine klare Haltung gegenüber der türkischen Regierung einzunehmen".

Vor Beginn des Brexit-Sondergipfels der EU-27 hatte Kern die Entwicklung in der Türkei zudem als "wirklich beunruhigend" bezeichnet. Die jüngste Festnahme von mehr als 1.100 Polizisten sei "kein gutes Zeichen". Aus österreichischer Sicht sei ein Beitritt keine realistische Option. Aber man sollte neue Beziehungen mit der Türkei aufbauen. Er habe das seit neun Monaten verlangt. "Wir haben eine Menge Zeit verloren", und es sei ein guter Zeitpunkt, die Dinge zu beschleunigen. Denn die EU sollte kein instabiles Land mit 80 Millionen Einwohnern in der Nachbarschaft haben.

Bei einem umstrittenen Verfassungsreferendum am 16. April war über die Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei abgestimmt worden, das Erdogan deutlich mehr Macht verschafft. Das Ja-Lager hatte die Abstimmung knapp gewonnen. Die Opposition hält die Abstimmung für manipuliert.

Am Samstag wurde in der Türkei landesweit der Zugang zum Online-Lexikon Wikipedia blockiert. Die türkische Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien (BTK) bestätigte, den Zugang gesperrt zu haben, nannte aber keinen Grund für die Entscheidung. Medienberichten zufolge sollen die türkischen Behörden Wikipedia zuvor vergeblich aufgefordert haben, Inhalte zur "Terrorunterstützung" sowie Angaben, wonach die Türkei mit Terrorgruppen kooperiere, zu löschen. (APA, 29.4.2017)