Im Blogbeitrag "Warum Conchita Wurst nichts mit sexueller Befreiung zu tun hat" habe ich versucht, Peter Sloterdijks These zu widerlegen, wonach der uns angeblich durchdringende Materialismus und Konsumismus "thymotische Tugenden" wie Empörung, Stolz, Zorn oder Tapferkeit verdränge. Tugenden ohne die politisches Engagement, Kampf- und Opferbereitschaft nicht zu haben sind.

Im Blogbeitrag "Wie "sexuelle Autonomie" die Lust tötet" ging es dann um den Nachweis, dass unsere aktuelle Haltung zur Sexualität und unser Verhältnis zur Arbeit keineswegs von Hedonismus und Materialismus bestimmt sind, sondern, im Gegenteil, von asketischen Idealen – Stichwort: "entkoffeinierte Sexualität". Und darum, dass Askese und Narzissmus das radikale "Desinteresse an den Objekten der Außenwelt" als Wesensmerkmal miteinander teilen.

"Was hast du heute getan?"

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist also unser Umgang mit der Sexualität, unsere Haltung zur Arbeit – und unser Verhältnis zur Politik – von asketischen Idealen und, ergo, vom Narzissmus geprägt.

Narzissmus als Grundtendenz der Gegenwartskultur macht sich aber nicht nur – und nicht einmal in erster Linie – im Desinteresse am politischen Engagement bemerkbar, sondern auch und gerade auch dort, wo Subjekte politisch zu denken und zu handeln vermeinen.

"Was hast du heute getan, um deine Schulden an die Natur zurückzuzahlen. Hast du alle [...] deine Zeitungen in den richtigen Mülleimer geworfen? Und alle Bierflaschen und Coladosen? Hast du das Auto genommen, wo du das Fahrrad oder den Nahverkehr hättest benutzen können? Hast du die Klimaanlage eingeschaltet, anstatt einfach das Fenster zu öffnen?"¹ paraphrasiert Slavoj Zizek die typische narzisstische Selbstbespiegelung des ökologisch-korrekten Zeitgenossen. Eine Selbstbespiegelung, die dieser als (öko-)politisches Handeln im Alltag missversteht, und die – genauso wie die "endlose Selbstanalyse"² des politisch Korrekten – vom Über-Ich diktiert ist.

Was hier als "politisch" begegnet, ist entpolitisierte Politik – oder, mit Marx zu sprechen, das Unpolitische "in der Erscheinungsform seines Gegenteils". Objektive, strukturelle und gesellschaftliche Realitäten werden vor lauter Selbstbespiegelung, und im Sinne des narzisstischen "Desinteresse[s] an den Objekten der Außenwelt" tendenziell ausgeblendet.

Wie die Gedanken der Beherrschten die der Herrschenden beherrschen

Dass asketische Ideale auf Seiten der Unterprivilegierten – wenn diese also die Armut auch noch als Tugend empfinden – die Stabilisierung des Systems, und somit die Interessen der Privilegierten befördern, leuchtet ein. Heute scheinen aber nicht bloß gewöhnliche Subjekte, sondern häufig auch Vertreter politischer Eliten von asketischen Idealen durchdrungen zu sein. Als würden, ganz im Widerspruch zum Befund von Marx, wonach "die Gedanken der herrschenden Klasse [...] in jeder Epoche die herrschenden Gedanken"³ seien, heute, umgekehrt, die Gedanken der Beherrschten die der Herrschenden beherrschen.

Asketische Ideale in der Politik, Beispiel Griechenland. Im Bild: Angela Merkel und Alexis Tsipras.
Foto: APA/AFP/Tobias Schwarz

"In dreiundvierzig Jahren als Wirtschaftsforscher", schrieb Stephan Schulmeister im Juli 2015 im "Profil" "habe ich noch nie ein solches Konzentrat an blanken Lügen wahrgenommen"⁴. Schulmeister bezog sich auf Berichte über die Verhandlungen der von der linksgerichteten Syriza dominierten griechischen Regierung mit EU-Kommission, EZB und IWF über ein zweites Hilfspaket in Zusammenhang mit der griechischen Staatsschuldenkrise. Und dachte offenbar an Behauptungen wie:

  • Der griechischen Regierung wurde seitens der EU-Verhandler ein "großzügiges Angebot" gemacht.

Oder:

  • Die griechische Regierung hat sich in den Verhandlungen nicht bewegt (das genaue Gegenteil war der Fall: die griechische Regierung, die mit dem Anspruch angetreten war, die aufgezwungene Sparpolitik – mit ihren desaströsen Folgen für die griechische Wirtschaft – zu beenden, hatte sich ständig auf die Positionen der europäischen Institutionen zubewegt. Zuletzt war sie zur beinahe vollständigen Kapitulation bereit, während sich die Institutionen überhaupt nicht bewegt hatten. Nachdem auch diese Beinahe-Kapitulation seitens der Gläubiger abgelehnt worden war, sah sich die griechische Seite gezwungen, die Bevölkerung über das von den Institutionen vorgeschlagene Sparprogramm zu befragen).

Oder:

  • Die griechische Regierung hat keine Konzepte vorgelegt.

Oder:

  • Das Geld deutscher und österreichischer Steuerzahler würde dazu verwendet, um der griechischen Wirtschaft und der griechischen Bevölkerung zu helfen.

Und ähnliches mehr.

Die Klage Schulmeisters hatte sich vor allem auf die Berichterstattung im deutschen Sprachraum bezogen. In US-amerikanischen Medien etwa, und bei zahlreichen US-amerikanischen Wirtschaftsforschern, hatten die Positionen der europäischen Verhandler, allem voran Deutschlands, für Verwunderung und Verwirrung gesorgt. "Die meisten amerikanischen Fachleute", so der Journalist Harald Schumann vom "Tagesspiegel", "betrachten die Position – insbesondere – der Deutschen inzwischen nur noch [...] als Folklore. Für die ist diese deutsche Austeritätspolitik so etwas ähnliches wie Lederhosen und Weizenbier."

Campact

"Was ist das für eine Haltung?"

Verwundert über die Position der deutschen Bundesregierung zeigte sich auch Stephan Kaufmann, Wirtschaftsexperte der "Frankfurter Rundschau". Schon das Sparprogramm, das die griechische Regierung als letztes Angebot unterbreitet hatte (bevor sie sich gezwungen sah, jenes Referendum über das Spardiktat der Gläubiger abzuhalten), hätte, so Kaufmann, bei einem Vortrag⁵, "den Ruin des Landes komplettiert" – hätte sie doch den Griechen weitere fünf bis zehn Prozent ihrer Wirtschaftsleistung gekostet. Auch dieses Angebot, eine Beinahe-Kapitulation, wurde von den Gläubigern aber abgelehnt, vordergründig aufgrund von Kleinigkeiten. Das, zitiert Kaufmann die "Washington Post", wäre in etwa so, als würde man jemanden zum Selbstmord verurteilen und ihm dann noch vorschreiben, wie er ihn zu begehen habe.

Kaufmann zitiert dann den Ökonomen Thiess Büttner, einen Berater des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble, der in einem Gastbeitrag für das "Handelsblatt" eine Nachbesserung und Abmilderung des Hilfsprogramms für Griechenland kategorisch abgelehnt hatte, "selbst wenn dies zu einer Stärkung der griechischen Wirtschaft führen sollte."

Wirtschaftsökonom: Beharren auf abstrakten Prinzipien im Fall Griechenland.
Foto: APA/AFP/Louisa Gouliamaki

"Was ist das für eine Haltung?", wundert sich Kaufmann, um festzustellen, dass die Bundesregierung die Angelegenheit "sehr grundsätzlich" behandle, dass es ihr offensichtlich "um ein Prinzip" gehe.

"Der [Bundesregierung] geht es [...] bei ihren Verhandlungen natürlich nicht um die griechischen Menschen – klar, wer hätte das schon gedacht. Denen geht es auch nicht um die griechische Wirtschaft – das hätte man noch denken können. Weil aus der griechischen Wirtschaft sollen ja immerhin die Erträge kommen, mit denen dann die Kredite zurückgezahlt werden, die wir denen gegeben haben. Es geht denen [...] offensichtlich auch nicht um den deutschen Steuerzahler, dass der sein Geld zurückkriegt. Es geht ihnen aktuell nicht einmal mehr um die Durchsetzung einer neoliberalen Agenda [...] Im Moment geht es ihnen ganz abstrakt darum, am Fall Griechenland zu demonstrieren, dass diese Regeln unbedingt gelten und, dass wer wagt, sie anzuzweifeln, vor dem Staatsbankrott steht."

Dieses verblüffend rücksichtslose Beharren auf abstrakten Prinzipien (zu dem sich neben Schäuble und Merkel auch ihr damaliger Stellvertreter Sigmar Gabriel von der SPD bekannt hatten) führt Kaufmann in weiterer Folge auf europapolitische und machtpolitische Interessen der deutschen Regierung zurück. Aber: Auch wenn die Argumentation Kaufmanns plausibel erscheint – die Reduktion dieses Fanatismus der Regeln auf rationale Interessen entspricht einer Rationalisierung im psychoanalytischen Verständnis: Um das Unheimliche einer Haltung, die, "wenn es hart auf hart geht", nicht nur fremden, sondern auch eigenen Interessen gegenüber keinerlei Rücksicht kennt, abzuwehren.

Fanatisch ist diese Haltung, sofern sie ganz abstrakt ist, wie Kaufmann sagt, also gegenstandslos. Und sich vom Bereich real existierender Objekte als solchem losgesagt hat – wie jener (im Blogbeitrag "Sind Materialisten böse?" erwähnte) Gotteskrieger von der Liebe zu seinem Sohn. (Sama Maani, 2.5.2017)

Fortsetzung folgt.

¹ Slavoj Zizek, Ärger im Paradies. Vom Ende der Geschichte zum Ende des Kapitalismus, Frankfurt am Main 2015, S. 137
² Ebd.
³ Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie. In: ders., MEW Bd 3, S. 46
⁴ Stephan Schulmeister, Der Weg in die Depression, profil vom 04. Juli 2015
⁵ In der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin, am 6. Juli 2015.

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