Militärpolizei im Einsatz gegen Demonstranten in Rio de Janeiro.

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Brennende Busse, eingeschlagene Scheiben von Banken und Geschäften. Die Polizei feuert Gummigeschoße ab. Die Luft ist diesig von Qualm und Tränengas. Im brasilianischen TV sind diese bürgerkriegsähnlichen Bilder nach dem ersten großen Generalstreik seit 21 Jahren zu sehen. Dabei ging es um viel mehr. Knapp 40 Millionen Menschen demonstrierten am Freitag im ganzen Land großteils friedlich gegen die Einschnitte bei Sozial- und Arbeitnehmerrechten der konservativ-liberalen Regierung von Präsident Michel Temer. In São Paulo und Rio de Janeiro stand das öffentliche Leben still: Busse und Metro fuhren nicht, Schulen und öffentliche Einrichtungen waren geschlossen.

Für Temer – gegen acht seiner Minister wird wegen Korruption ermittelt – ist dies der bisherige Tiefpunkt einer alles andere als gelungenen achtmonatigen Präsidentschaft. Er steht mit dem Rücken zur Wand: Auch er soll Schmiergeldzahlungen erhalten haben. Bisher schützt ihn seine Immunität vor Ermittlungen.

Expräsident Lula profitiert

Als Sieger dieser Massenmobilisierung kann sich Expräsident Luiz Inácio Lula da Silva (2003 bis 2010) feiern lassen. Obwohl gegen den Linkspolitiker fünf Korruptionsverfahren laufen, erlebt Brasiliens Volkstribun derzeit eine Renaissance. Fast vergessen scheint die Enttäuschung vieler seiner Anhänger, als vor einem Jahr Korruptions- und Geldwäschevorwürfe gegen ihn laut wurden. Heute wird der 70-Jährige beim Volk als Hoffnungsträger angesehen, der Brasilien aus der lähmenden Rezession herausführen kann. Und wieder einmal trifft er genau ins Herz der Massen. "Es gibt keine andere Möglichkeit, als den Kampf fortzuführen", ruft er beim Generalstreik aus. Die Regierung wolle die Arbeitnehmer "zurück in die Sklaverei" führen. In neuesten Umfragen führt Lula die Liste der potenziellen Kandidaten für Neuwahlen haushoch mit 29 Prozent an.

Temer will die Staatsausgaben für 20 Jahre einfrieren, wovon besonders Gesundheits- und Bildungsprogramme betroffen sind. Das Pensionsantrittsalter soll erhöht und die Altersbezüge gekürzt werden. Auf dem Arbeitsmarkt sollen Outsourcing und Leiharbeit erleichtert, die Arbeitszeiten verlängert und das Mitspracherecht der Gewerkschaften eingeschränkt werden. Die Reformen werden derzeit im Kongress beraten. Temer weiß um seine niedrige Popularität und sieht sie als Vorteil an, um die Pläne durchzuziehen. Jeglichen Dialog mit den Gewerkschaften lehnt er ab.

Hohe Arbeitslosigkeit

Der 76-jährige Temer war im September nach der umstrittenen Amtsenthebung der linksgerichteten Präsidentin Dilma Rousseff mit dem Versprechen angetreten, die Korruption zu bekämpfen und Lateinamerikas größte Volkswirtschaft aus der Krise zu führen. Inzwischen sind alle Illusionen auch bei seinen Anhängern verpufft. In der vergangenen Woche erreichte die Arbeitslosigkeit mit 13,7 Prozent einen neuen Rekord.

"Die Brasilianer sind hochgradig unzufrieden mit der Politik. Deshalb werden die Proteste und Massendemonstrationen weitergehen", sagt die Politikwissenschafterin Ana Paula de Macedo Soares. Allerdings bestehe auch die Gefahr von sozialen Unruhen wie im Nachbarland Venezuela. "Brasilien ist, wenn sich nichts ändert, davon nicht weit entfernt."

Immer öfter werden vorgezogene Neuwahlen als Ausweg aus der politischen Krise debattiert. Temer, der sich nie einer Wahl stellen musste, würde regulär bis Ende 2018 im Amt bleiben. (Susann Kreutzmann aus São Paulo, 1.5.2017)