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Am 13. April 2003 lief Paula Radcliffe in London Marathon-Weltrekord. Nun, da man ihn löschen will, sagt sie: "Ich bin verletzt. Das beschädigt meinen Ruf und meine Würde."

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Jarmila Kratochvilova (181) aus der Tschechoslowakei siegt am 21. August 1983 beim Europa-Cup-Finale in London über 400 Meter vor Marita Koch (91) aus der DDR. Auch nach wie vor gültige Weltrekorde der beiden Frauen datieren aus den frühen 80ern.

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Trainer Wilhelm Lilge wäre schon froh, würden künftigen Dopingsündern auch rückwirkend alle Erfolge und Rekorde aberkannt.

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ÖLV-Sportkoordinator Hannes Gruber ist überzeugt: "Es wären auch Athleten dabei, denen man Unrecht tun würde."

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Wien – "Pauschalfreisprüche sind abzulehnen", sagt Wilhelm Lilge, "Pauschalverurteilungen aber natürlich auch." Den renommierten Leichtathletiktrainer aus Wien, der wie kaum ein anderer gegen Doping auftritt, hat der Vorstoß des europäischen Verbands (EAA) überrascht. Dessen Präsident Svein Arne Hansen kündigte nach einer Tagung an, die EAA werde beim Weltverband (IAAF) quasi die Löschung aller Weltrekorde beantragen.

Ab Anfang 2018 soll es, wenn es nach Hansen geht, neue Regeln zur Rekordanerkennung und also neue Bestenlisten geben. "Unser Vorschlag ist revolutionär", sagt der Norweger. "Wir wollen die Standards für die Anerkennung erhöhen." Dopingverdächtige Rekorde aus der "Steinzeit" sollen so an Bedeutung verlieren. Laut Clemens Prokop, der dem deutschen Verband (DLV) vorsteht und der zuständigen EAA-Kommission angehörte, geht es darum, "dass man nicht jeden Rekord einzeln prüft, sondern einen Strich drunter macht und neu anfängt". Schließlich herrschten früher Bedingungen, die "im Kampf gegen Doping mit heute nicht mehr vergleichbar sind".

Zweifel sind angebracht

Nicht abgeklärt ist die juristische Durchsetzbarkeit des Plans, der im August der IAAF vorgelegt wird. Zweifel sind angebracht. Schließlich müssten alle Kontinentalverbände zustimmen, das wäre denn doch überraschend. Der australische LA-Verband etwa hat bereits angedeutet, nicht zustimmen zu wollen. Schon vor Jahren war ein ähnlicher Antrag, den Deutschland und Norwegen forciert hatten, abgelehnt worden. Diesmal allerdings macht IAAF-Präsident Sebastian Coe vorab freundliche Nasenlöcher. "Mir gefällt der Plan."

Lilge ist weniger begeistert. "Ich hänge mit Herzblut am sauberen Sport", sagt er. "Aber man würde alle Rekordler und Rekordlerinnen in einen Topf werfen." Hannes Gruber, Sportkoordinator im österreichischen Verband (ÖLV), stimmt zu. "Es wären sicher auch Athleten dabei, denen man Unrecht tun würde." Heruntergebrochen auf Österreich äußert Lilge zwar die Vermutung, "dass 80 Prozent aller Rekorde gedopt zustande kamen". Aber er würde gleichzeitig für Dietmar Millonig, dessen Rekorde über 3000 Meter im Freien (7:43,66) und über 5000 Meter in der Halle (13:33,79) von 1980 beziehungsweise 1986 stammen, "die Hand ins Feuer legen".

Die böse alte Zeit

Natürlich gibt es Marken noch aus jener Zeit, in der vor allem die DDR dominierte – den ältesten Weltrekord bei den Männern fixierte Jürgen Schult im Diskuswurf: 74,09 Meter am 6. Juni 1986. Bei den Frauen ist der 100-m-Weltrekord (10,49) seit 1988 unerreichbar, aufgestellt hat ihn die US-Amerikanerin Florence Griffith-Joyner, die zehn Jahre später nach einem epileptischen Anfall erstickte. Noch älter sind Bestmarken der Tschechin Jarmila Kratochvilová über 800 Meter (1:53,28 anno 1983) und der Ostdeutschen Marita Koch über 400 Meter (47,60 anno 1985). Anderen Weltrekordlern wie dem Briten Jonathan Edwards, der 1995 mit drei Sprüngen auf 18,29 Meter kam, sagte man stets Sauberkeit nach. Dennoch wird Europas Vorhaben – Brexit hin, Brexit her – dem Vernehmen nach auch von Großbritannien unterstützt.

Jonathan Edwards selbst allerdings würde es nicht verstehen, wenn die Tilgung seines Weltrekords unter "Kollateralschaden" fallen würde, wie seitens der EAA durchaus eingestanden wird. "Aber das Bild ist ein größeres", wird seitens der EAA festgehalten. "Ich glaube nicht", sagt Edwards, "dass es einen Dreispringer gibt, der die Rechtmäßigkeit meiner Bestmarke anzweifeln würde."

Kopfschütteln bei Radcliffe

Auch bei der britischen Marathon-Weltrekordlerin Paula Radcliffe (2:15:25 Stunden anno 2003) lösen die EAA-Pläne ein Kopfschütteln aus. "Ich bin verletzt. Das beschädigt meinen Ruf und meine Würde", sagte Radcliffe dem "Daily Telegraph". "Es ist ein starkes Stück, einfach alle Rekorde tilgen zu wollen, weil man einige fragwürdige Rekorde nicht mehr stehen haben will." Auch der frühere britische Hürdensprint-Weltrekordler Colin Jackson hat einen Rat für IAAF-Präsident Coe. "Er sollte sich genau überlegen, was er erreichen will und wie er es erreichen will. Die Fans blicken gerne zurück in die Geschichte, sie lieben es, Leistungen zu vergleichen."

Zwei Rekordlisten parallel?

Geht der EAA-Antrag durch, würden künftig wohl zwei Rekordlisten parallel geführt. "Du kannst ja die alte Leistung nicht völlig wegwischen", sagt Gruber. Doch sollen Marken wie jene von Schult oder Koch auf ewig unantastbar bleiben? Lilge: "Na und? Das Streben nach Weltrekorden ist doch eh nicht so wichtig." Er wäre schon zufrieden, würde künftigen Dopingsündern "rückwirkend alles aberkannt", also auch Rekorde, bei denen kein Doping nachgewiesen wurde. Doch selbst dorthin ist der Weg noch weit. (Fritz Neumann, 3.5.2017)