"Die Eroberung des goldenen Apfels" – ab Freitag am Landestheater Niederösterreich.

Foto: Alexi Pelekanos

Regisseur Hakan Savas Mican inszeniert erstmals in St. Pölten.

Foto: Esra Rothoff

St. Pölten – Das auf Basis eigener Recherchen entwickelte und von Emre Akal geschriebene Stück Die Eroberung des goldenen Apfels entzündet sich am Wort "Türkenbelagerung". Die unter diesem Begriff bekannten historischen Schlachten von 1529 und 1683 sind darin allerdings nur der ferne Hall aus einer Zeit territorialer Eroberungskriege.

Den deutsch-türkischen Regisseur Hakan Savas Mican hat vielmehr die heute vor allem von populistischen Politikern und ressentimentbeladenen Bürgern im Mund geführte Bezeichnung der "dritten Türkenbelagerung" interessiert, mit der abschätzig die migrantische Bevölkerung gemeint ist. "Die historischen Fakten haben mit der Gegenwart nichts zu tun", so der Regisseur im Gespräch.

Die Eroberung des goldenen Apfels behandelt deshalb Bilder und Projektionen vom Fremden. Konkret: In der Kantine eines großen Theaters, in dem auf der Hauptbühne eine Operette zur "Türkenbelagerung" läuft, wartet ein europäischer Friedenschor vergeblich auf seinen Auftritt. Dazwischen tauchen Gastarbeiter auf, auch Janitscharen anno 1683. "Es geht mir um das Grundgefühl des Wartens", so Mican, "darum, den Zustand einer gesellschaftlichen Stagnierung zu erfassen."

STANDARD: Mit dem "goldenen Apfel" ist das christliche Machtsymbol gemeint. Geht es Ihnen um Religion?

Mican: Wenn man möchte, kann man es so politisch lesen, aber zuallererst einmal heißt die Kantine im Stück "Zum Goldenen Apfel".

STANDARD: Das Stück entstand auf Basis von Recherchen. Wie gingen Sie vor?

Mican: Die Figuren sind sehr stark inspiriert von unserer Recherchearbeit, von historischen Figuren, allem voran aber von Elizabeth T. Spiras Fernsehsendung Alltagsgeschichten. Ihre Art, an Menschen heranzugehen und in den kurzen Begegnungen etwas Wahrhaftiges anzustoßen, hat mich fasziniert.

STANDARD: Sie haben also keine eigenen Interviews geführt?

Mican: Zu Beginn haben wir mit Wissenschaftern – Historikern und Soziologen – gesprochen. Ausgehend davon sind persönliche Gedanken, Geschichten und Erfahrungen der Schauspielerinnen und Schauspieler mit in die Texte eingeflossen. Aber wir haben nicht versucht, Biografien von der Straße hereinzuholen.

STANDARD: In Österreich gab es eine hohe Zustimmung beim türkischen Referendum. Manche mutmaßen, Erdogan habe ein Bespitzelungsnetzwerk etabliert. Halten Sie das für realistisch? Wird unser Gespräch irgendwo gespeichert?

Mican: Na ja, ich habe meine politische Meinung schon oft geäußert und habe auch mit dem Journalisten Can Dündar (dem ehemaligen Chefredakteur der türkischen Tageszeitung "Cumhuriyet", Anm.) zusammengearbeitet. Unser Gespräch könnte durchaus gespeichert werden. Aber es wäre für mich wohl kein Problem, da ich keinen türkischen Pass besitze, sondern nur den deutschen.

STANDARD: Absichtlich?

Mican: Nein, ich hätte gern auch meinen türkischen Pass behalten, aber ich habe die Staatsbürgerschaft erst 2011 beantragt, da war nur noch entweder oder erlaubt.

STANDARD: Wie erklären Sie den hohen Referendumszuspruch der Türken in Europa?

Mican: Man kann das nicht losgelöst betrachten von der Entwicklung der letzten 56 Jahre. In Deutschland wurde das erste Anwerbeabkommen 1961 geschlossen. Von den knapp drei Millionen türkischstämmigen Menschen in Deutschland besitzt nur eine Minderheit einen deutschen Pass. Fakt ist also, dass diese Menschen nicht entscheiden können, was politisch rund um sie herum passiert. So bleiben sie an die Türkei gebunden, obwohl sie wissen, dass sie nie zurückkehren werden.

STANDARD: Es überwiegt nachhaltig das Gefühl der Ausgrenzung?

Mican: Ja, und diese Wahrnehmung ist auch geprägt von einer Art Komplex Europa gegenüber. Die Menschen sind hier ja nicht als Akademiker angekommen, sondern als Arbeiter. Sie fühlen sich teilweise immer noch als Angehörige einer anderen Klasse und nicht eingebunden. Es ist ganz leicht für jemanden wie Erdogan, die Menschen genau in dem Gefühl anzusprechen, verstanden und gehört zu werden. Das Ja zu Erdogan hat also nichts mit einer politischen Agenda zu tun. Da müssten die Länder Europas sich einmal überlegen, was sie in den letzten Jahrzehnten in der Arbeitsmigration falsch gemacht haben.

STANDARD: Die Integration läuft schief ...

Mican: Es ist auch ein europäischer Reflex. Der hohe Zuspruch, den Politiker wie Geert Wilders oder Le Pen bekommen, ist die Folge einer geradezu freudianischen Konstellation: Die Leute wissen genau, dass die Vergangenheit nicht vor 20 Jahren angefangen hat, sondern vor Hunderten von Jahren in den afrikanischen Kolonien Europas. Wir reden über den Holocaust, über den armenischen Genozid, über Srebrenica, aber was die abendländische Zivilisation in Afrika veranstaltet hat, das ist fast vergessen. Wir als Abendländer haben überhaupt keinen emotionalen Link dazu. Wir müssten zuerst ein Gefühl dafür entwickeln, um zu verstehen, wo wir Europäer heute sind. Statt Schmerz für Afrika zu empfinden, ist es einfach, lediglich Wut zu äußern und AfD zu wählen.

STANDARD: Sie haben jeweils die Hälfte Ihres Lebens in der Türkei und in Deutschland verbracht. Wo passen die Kulturen zusammen?

Mican: Wenn ich sehe, wohin die deutsch-jüdische Kultur die Menschheit gebracht hat, so ist das einmalig, das ist leider vernichtet worden. Wenn ich also nach meiner Identität frage, dann weiß ich, dass ich die Vielfalt schätze. Ich habe auch mit dem Begriff Integration ein Problem, er meint ja etwas Eingrenzendes. Ich aber liebe den Reichtum eines Zusammenlebens von Menschen verschiedener Kulturen. Davon hat die Menschheit immer profitiert, siehe Wien vor hundert Jahren oder Amerika überhaupt.

STANDARD: Was ist denn für Sie typisch deutsch?

Mican: Das Analytische. Es gibt jeden Sonntag einen Tatort zu einem Thema, und der Film versucht dann, Antworten oder Erklärungen zu geben, denn "der Deutsche" will ja immer verstehen. Das genügt aber nicht, denn danach gibt es noch eine Diskussion dazu, in der der Film und sein Problemaufriss weiter analysiert werden. "Herr Professor, in dem Film haben wir gesehen ..." Sehr deutsch! Das ist auch das Anliegen meiner Inszenierung: Wir müssen nicht immer verstehen, sondern vor allem Empathie für das Andersartige entwickeln. (Margarete Affenzeller, 3.5.2017)